Der Weg zur Unabhängigkeit der Gerichte führt über die Leiche des Justizministers

Aus dem Text:

„…. Je schlechter die Qualität unserer Tätigkeit durch Rechtsmittelabbau wird, je mehr das Ansehen der Richter in der Öffentlichkeit sinkt, desto angreifbarer werden wir Richter, und desto leichter werden wir uns in unserer Tätigkeit den Vorstellungen der Exekutive anpassen ….“

 

Thomas Schulte-Kellinghaus, Richter am Oberlandesgericht (Karlsruhe)

Veröffentlicht in: Festschrift 20 Jahre Neue Richtervereinigung, 2007, Seiten 48 ff.

 

1. Einleitung – Ein Leitbild für die nächsten 20 Jahre NRV

Die Überschrift dieses Beitrags wird vielleicht den einen oder anderen Leser im ersten Moment etwas verunsichern. Im zweiten Moment werden sich allerdings die meisten Leser erinnern, dass der Satz nicht neu ist. Er stammt von Paulus van Husen (AÖR 78 (1953), 49, 59) und ist in der Folgezeit von vielen Juristen immer wieder zustimmend zitiert worden, unter anderem von Mackenroth im Jahr 2002 (ZRP 2002, 337). Dabei darf man annehmen, dass Mackenroth zu dieser Zeit als Vorsitzender des Deutschen Richterbundes wohl noch nicht daran gedacht hatte, dass er wenig später selbst Justizminister in Sachsen werden würde.

Die Überlegungen zur „Leiche des Justizministers“ als Voraussetzung unabhängiger Gerichte sind alt. Ich meine allerdings, die Analyse ist heute aktueller als je zuvor. Wenn die Neue Richtervereinigung sich für die nächsten 20 Jahre ein Leitbild schaffen möchte, würde ich vorschlagen, dass das Leitbild als Überschrift den von van Husen stammenden Satz tragen sollte.

2. Gewaltenteilung und die „Leiche des Justizministers“

Die „Leiche des Justizministers“ hat etwas mit der Gewaltenteilung zu tun, die in unserem Grundgesetz in Art. 92 GG ihren Ausdruck gefunden hat. Dabei wird das Prinzip der Gewaltenteilung oft – gerade auch von vielen Richtern – nur verkürzt gesehen: Gewaltenteilung meint zum einen, dass die Selbständigkeit der Dritten Gewalt (im Verhältnis zur Exekutive und zur Legislative) entscheidende Grundlage des Rechtsstaats ist. Gewaltenteilung bedeutet gleichzeitig aber noch etwas anderes.

Es gibt im Gewalten-geteilten Staat unterschiedliche, teilweise widerstreitende Gewalten, die jeweils eigene, unterschiedliche, Interessen verfolgen und um Macht und Einfluss konkurrieren. Das staatliche Machtmonopol wird auf verschiedene Gewalten verteilt, die ihre Macht wechselseitig begrenzen. Dabei hat jede Instanz staatlicher Macht die Tendenz, die eigene Macht zu erweitern und die Macht der anderen Instanzen zu reduzieren. Das Grundgesetz sieht und akzeptiert diesen Machtkampf der verschiedenen Gewalten und versucht, die Machkonkurrenz der Gewalten in gewissen Bereichen zu reglementieren.

Daraus folgt, dass insbesondere auch das Verhältnis zwischen Exekutive und Judikative in der Realität zwangsläufig wesentlich von einer Machtkonkurrenz bestimmt wird. Exekutive und Judikative sind machtpolitische Gegner, wie es dies in vielen anderen gesellschaftlichen Bereichen auf teilweise etwas anderen Ebenen auch gibt, beispielsweise im Verhältnis zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Wir Richter müssen uns immer wieder vor Augen führen, dass die Exekutive aus strukturellen Gründen kein Interesse an unabhängigen und selbständigen Gerichten haben kann. Das Handeln der Exekutive kann in der Tendenz nur darauf gerichtet sein, Unabhängigkeit und Selbständigkeit der Gerichte einzuschränken.

Die Landesjustizminister sind Teil der Exekutive und nicht der Judikative. Dementsprechend sind auch die Landesjustizminister der Dynamik der Gewaltenteilung unterworfen. Die Justizminister stehen in einer paradoxen Situation: Einerseits sollen sie in Deutschland die organisatorischen Bedingungen für eine funktionierende Rechtsprechung schaffen, andererseits stehen sie im Lager der Exekutive, die als machtpolitischer Gegner der Gerichte an einer funktionierenden, unabhängigen Rechtsprechung nur sehr begrenzt interessiert sein kann. Das kann für die Gerichte nicht gut gehen. Daher kann nur die „Leiche des Justizministers“ die Unabhängigkeit der Gerichte garantieren.

3. Gesellschaftliche Veränderungen in den letzten 15 Jahren

Ich denke, dass die Rolle der Landesjustizminister als strukturelle Gegner der Gerichte vor etwa 10 bis 15 Jahren in Deutschland noch nicht so deutlich wahrnehmbar war wie heute. Das System der gesellschaftlichen Institutionen in Deutschland war – soweit die Gerichte betroffen sind – in der Vergangenheit relativ statisch. Das hat sich inzwischen grundlegend geändert. Es gibt immer mehr Veränderungen in der Gerichtsorganisation und immer mehr Pläne für weitere Veränderungen. „Modernisierung“ und „Reformen“ sind politische Worthülsen, oft ohne jeden Inhalt. Die Begriffe bestimmen aber die Dynamik gesellschaftlicher Veränderungen, auch bei den Gerichten. Gleichzeitig ist das Bewusstsein der Bedeutung des Rechtsstaats in Deutschland in den Medien und in der Öffentlichkeit in den letzten 15 Jahren deutlich gesunken. Das heißt: Kein Landesjustizminister kann heute noch einen politischen Gewinn erzielen, wenn er in einer Presseerklärung oder in einem Antrag im Kabinett erklärt, dass der Rechtsstaat Geld für unabhängige Gerichte benötigt. Die Justizminister können sich dem gesellschaftlichen Trend nicht entziehen. Machtausübung gegen unabhängige Gerichte ist heute wesentlicher Bestandteil der Tätigkeit aller Landesjustizminister. Die Rechtsprechung wird in Deutschland nicht – wie manche meinen – von den Finanzministern bedroht, sondern in erster Linie von den Landesjustizministern.

4. Abbau des Rechtsstaats durch die sogenannte „Große Justizreform“

Natürlich gibt es Unterschiede zwischen den verschiedenen Justizministern. Aber die Tendenz ist in allen Bundesländern heute ähnlich. Besonders deutlich wurde die Rolle der Justizminister für uns Richter in Deutschland bei der sogenannten „Großen Justizreform“, die zunächst von allen Justizministern betrieben wurde; erst in jüngerer Zeit sind einige Justizminister etwas auf die „Bremse“ getreten: Kernstück der sogenannten „Großen Justizreform“ war das mit Abstand größte und weitreichendste Programm zum Abbau von Rechtsmitteln in Deutschland nach dem zweiten Weltkrieg. Jeder weiß, dass Rechtsmittel – neben dem Kollegialprinzip – das wichtigste Instrument eines rationalen Qualitätsmanagements für richterliche Tätigkeit sind. Das heißt: Die Landesjustizminister haben unter dem Etikett „Reform“ den weitreichendsten Qualitätsabbau für die Gerichte in Deutschland nach dem zweiten Weltkrieg betrieben (vgl. die Presseerklärung des Bundesvorstands der NRV vom 11.07.06).

Um Kosten ging es den Landesjustizministern bei dieser „Reform“ nie. Wir wissen, dass sich aus einer Studie des Europarats aus dem Jahr 2004 ergibt, dass Deutschland im europäischen Vergleich nicht zu viel, sondern zu wenig Geld für den Rechtsstaat ausgibt (vgl. die Presseerklärung des Bundesvorstands der NRV vom 08.12.05). Wer sich im Übrigen einmal die Mühe macht, die Papiere zu lesen, die Justizminister und Staatssekretäre zum Rechtsmittelabbau verfasst haben, stellt fest, dass es bei diesen Plänen nirgendwo ernst zu nehmende Analysen zu den jeweiligen Kosten gegeben hat. Kosten waren und sind letztlich nur ein politischer Vorwand, um die Stellung der Gerichte im Machtkampf der Gewaltenteilung zu schwächen. Je schlechter die Qualität unserer Tätigkeit durch Rechtsmittelabbau wird, je mehr das Ansehen der Richter in der Öffentlichkeit sinkt, desto angreifbarer werden wir Richter, und desto leichter werden wir uns in unserer Tätigkeit den Vorstellungen der Exekutive anpassen; das ist dann von Bedeutung, wenn die Ergebnisse unserer Rechtsprechung den jeweils aktuellen Vorstellungen der Exekutive nicht entsprechen, beispielsweise bei der Kontrolle von Verwaltungsbehörden, oder etwa beim rechtsstaatlichen Umgang der Gerichte mit Straftätern oder Verdächtigen.

5. Weitere Beispiele für die negative Rolle der Justizminister

Es gibt viele andere Beispiele, wo die Landesjustizminister die Motoren des Abbaus rechtsstaatlicher Strukturen sind. Es sind Landesjustizminister (beispielsweise in Hamburg und Baden-Württemberg) – und nicht etwa Innenminister – , die das Jugendstrafrecht teilweise abbauen wollen. Landesjustizminister – und nicht etwa Finanzminister – wollen durch ein entsprechendes Gesetzesvorhaben zur Prozesskostenhilfe den Zugang mittelloser Bürger zu den Gerichten drastisch beschränken (vgl. die Presseerklärung des Bundesvorstands der NRV vom 08.06.06). Justizminister sind es, welche die Ziele des Strafvollzugs verändern wollen (Sicherheit im Vordergrund; vgl. die Presseerklärung des Bundesvorstands der NRV vom 07.03.06). Ein Justizminister bestellt ein Gutachten, um Richter versetzbar zu machen (vgl. die Rede des thüringischen Justizministers vom 25.04.05 vor dem Landesarbeitskreis Christlich-Demokratischer Juristen in Thüringen).

Und wie sieht es mit dem grundsätzlichen Verhältnis der Justizminister zur Richterlichen Unabhängigkeit aus? Außerordentlich schlecht. Nur zwei Beispiele: In ganz Deutschland wird von den Justizministern sogenannte „Neue Steuerung“ betrieben, teilweise – wohl wegen der Eindeutigkeit des Begriffs „Steuerung“ – inzwischen nur noch als „Qualitätsmanagement“ bezeichnet. Dass Hans Jürgen Papier, der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, schon 2001 die Auffassung vertreten hat, Richter könnten nach dem Grundgesetz nur durch (formelle und materielle) Gesetze gesteuert werden und nicht durch irgendwelche anderen „Steuerungsinstrumente“ der Exekutive (NJW 2001, 1089, 1094), hat bis jetzt noch keinen Landesjustizminister gestört. Ich kenne keinen Justizminister in Deutschland, der vor der Einführung „Neuer Steuerungsinstrumente“ in seinem Bundesland irgendwelche ernsthaften Erwägungen zu Frage der Richterlichen Unabhängigkeit angestellt hätte. Ein weiteres Beispiel für die grundsätzliche Haltung der Justizminister zur Richterlichen Unabhängigkeit sind die „Standards verwaltungsrichterlicher Arbeit“ vom 07.03.05, mit denen der Präsident des Bundesverwaltungsgerichts und die Präsidentin/die Präsidenten der Oberverwaltungsgerichte die Richterinnen und Richter an den Verwaltungsgerichten u. a. aufgefordert haben, die im verwaltungsgerichtlichen Verfahren vorgeschriebene Amtsermittlung einzuschränken. („Was man dem Richter nicht klagt, soll er nicht richten.“ Vgl. den Offenen Brief des Bundesvorstands der Neuen Richtervereinigung vom 20.06.05 „Standards verwaltungsrichterlicher Arbeit – Aufforderung zum Rechtsbruch“.) Kein einziger Justizminister in Deutschland war bereit, in seinem Bundesland Konsequenzen aus den Verfassungsverstößen der Präsidenten zu ziehen.

Das wichtigste Thema im Verhältnis zwischen der Dritten Gewalt und den Landesjustizministern ist die Ressourcenfrage. Inzwischen setzt sich langsam die Erkenntnis durch, dass es nicht um eine politische sondern um eine verfassungsrechtliche Frage geht. Das heißt: Die Exekutive ist verfassungsrechtlich verpflichtet, beim Landtag die Mittel zu beantragen, die erforderlich sind, um die Gerichte mit den notwendigen Richterstellen auszustatten. Hierbei muss die Exekutive berücksichtigen, dass die Anzahl der von den Richtern zu bearbeitenden Verfahren nicht von außen vorgegeben werden kann, sondern sich aus dem – der Richterlichen Unabhängigkeit unterliegenden – Arbeitsstil der Richter ergeben muss. Nur die jeweiligen Richter können und dürfen entscheiden, was in einem bestimmten Fall an Richterlicher Tätigkeit erforderlich ist und wie viel Arbeitszeit der Fall dementsprechend beanspruchen muss (vgl. zur Ressourcenfrage die Beschlüsse des Deutschen Juristentages, Abteilung Justiz, Ziffer 7, 8 und 9, NJW, Heft 42/2006, S. XL). Das heißt: Die Justizminister sind verpflichtet, unter Berufung auf die verfassungsrechtliche Pflicht der Exekutive für entsprechende – an den tatsächlichen Bedürfnissen der Gerichte orientierte – Haushaltsanträge zu sorgen. Es gibt keinen Landesjustizminister in Deutschland, der insoweit seinen Pflichten gegenüber der Dritten Gewalt nachkommt. Im Gegenteil: Justizminister vertreten öffentlich ständig die These von einem angeblichen „Sparzwang“ für die Gerichte, um politisch erwünschte – aber verfassungsrechtlich unzulässige – Ressourcenbegrenzungen und -reduzierungen gegenüber den Gerichten durchzusetzen.

6. Konsequenzen für das Verhältnis zwischen Richtern und Justizministern in der Zukunft

Die Analyse der Stellung und der Rolle der Justizminister muss die Strategie der Richterschaft im allgemeinen und der NRV im besonderen in ihrem Verhältnis zu den Justizministern und ihren nachgeordneten Mitarbeitern bestimmen. Niemand bezweifelt, dass auch Justizminister nette Menschen sind oder sein können. Das ändert aber nichts daran, dass die Dritte Gewalt von den Landesjustizministern nichts zu erwarten hat und nichts zu erwarten haben kann, da die Justizminister im System der Gewaltenteilung die verfassungsrechtlichen Gegner der Richter sind und sich aus politischen Gründen auch als Gegner verhalten. Wir dürfen uns über das Verhalten der Justizminister und über ihre politischen Strategien keinen Illusionen hingeben, auch wenn ohne Zweifel der eine oder andere Justizminister sich gelegentlich bemüht – im Rahmen seiner politisch sehr begrenzten Möglichkeiten – etwas für die Gerichte zu tun.

Wir sollten uns gegenüber den Justizministern sachlich, aber konfrontativ verhalten. Wenn Justizminister bei Rechtsmitteln oder bei der Prozesskostenhilfe Bausteine des Rechtsstaats demontieren wollen, müssen wir dies mit allen in Betracht kommenden politischen Mitteln bekämpfen. Wir sollten vor allem die Rechtsverstöße von Justizministern und ihren Verwaltungen klar und eindeutig öffentlich als solche benennen. Auch wenn es schwierig und mit erheblichen Belastungen für die jeweiligen Richter verbunden ist, sollten wir mehr als bisher nach rechtlichen Möglichkeiten der Auseinandersetzung mit den Justizministern suchen. Es kommen Verfahren vor den Richterdienstgerichten in Betracht. Wenn Mitarbeiter der Justizverwaltungen Richterliche Unabhängigkeit verletzen, sollten wir auf den – rechtlich von Amts wegen gebotenen – Maßnahmen der Dienstaufsicht bestehen.

„Der Weg zur Unabhängigkeit der Gerichte führt über die Leiche des Justizministers.“ Das bedeutet zum einen, dass wir persönliche Konsequenzen von einem Justizminister fordern müssen, der Richterliche Unabhängigkeit ständig missachtet. Zum anderen bedeutet dieser Satz, dass die Forderung der Neuen Richtervereinigung nach einer Selbstverwaltung der Gerichte – auf Grund der negativen Entwicklung der Rolle der Justizminister in den letzten 15 Jahren in Deutschland – heute noch aktueller und noch wichtiger ist als früher. Die Justizminister stehen in Deutschland einer an rechtsstaatlichen Prinzipien orientierten Dritten Gewalt im Wege.

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