Rezension: Udo Hochschild, Gewaltenteilung als Verfassungsprinzip

Erschienen in «Justice – Justiz – Giustizia» 2011/1

 

Aldo Elsener
Dr. iur., Generalsekretär und Gerichtsschreiber am Verwaltungsgericht des Kantons Zug/Schweiz.:

„Wer hätte das gedacht: Sogar die Tugend hat Grenzen nötig“. Diesen Satz Montesquieus (1748) stellt Udo Hochschild an den Anfang seiner letztes Jahr in Deutschland erschienenen Dissertation (Frankfurt a.M., 199 S., dissertation.de-Verlag im Internet Gmbh Berlin, ISBN 978-3-86624-502-0). Der 1944 geborene, in Karlsruhe aufgewachsene Autor wirkte zunächst in Baden-Württemberg, ab 1991 bis Ende 2007 in Leipzig und Dresden als Zivil-, Straf-, Sozialversicherungs- und Verwaltungsrichter. In seiner „Arbeit eines Richters nach dem Ende seines Berufslebens“ formuliert der ehemalige Vorsitzende Richter am Verwaltungsgericht Dresden und ehemalige Vorsitzende eines Richterverbands aufgrund des anthropologischen Ansatzes von Montesquieu Thesen zur Gewaltenteilung in Deutschland, die von allgemeiner Geltung und trotz unterschiedlicher Verfassungswirklichkeit auch für die Schweiz von grossem, durchaus aktuellem Interesse sind (vgl. hierzu besonders Rz. 20). (Hinweis: Wie der Autor verwendet auch der Rezensent immer das generische Maskulinum.)

[Rz 1] Bestimmt ist Udo Hochschild auch vielen schweizerischen am Staats- und Verwaltungsrecht interessierten Juristen bekannt aufgrund der von ihm im Internet unterhaltenen Homepage „gewaltenteilung.de“ mit Beiträgen „zum Status der dritten Gewalt in Deutschland und Europa“. Mit seiner Dissertation präsentiert er sozusagen die Quintessenz der in seinem „offenen Forum“ wissenschaftlich breit – auch unter Einbezug gewichtiger schweizerischer Autoren – diskutierten Themen. Vorweg ist zum Untersuchungsgegenstand der Arbeit klarzustellen, dass in Deutschland die Gerichte mit Ausnahme des Bundesverfassungsgerichts von den hierfür zuständigen Ressorts der Bundesregierung und der Landesregierungen (in der Regel dem Justizministerium) verwaltet werden. Die Verwaltungskompetenz umfasst die Einstellung, die Beförderung und die Versetzung der Richter und des nichtrichterlichen Personals, die Dienstaufsicht einschließlich der dienstlichen Beurteilung aller Justizangehörigen in Zeugnissen, die Anschaffung der notwendigen Sachmittel und die Organisation des gesamten Dienstbetriebs.

[Rz 2] Im ersten Kapitel seiner Arbeit stellt der Autor die Frage: „“Wozu Gewaltenteilung?“. Er beschreibt die Entwicklung der modernen Ideen von Rechtsstaat und Gewaltenteilung seit Niccolò Machiavelli über die Aufklärung bis heute. Es waren die politischen Denker der Aufklärung, die mit ihren modernen Ideen von Rechtsstaat und Gewaltenteilung die Freiheit des Menschen vor den jeweils Mächtigen zu schützen suchten (John Locke, Charles de Montesquieu, Immanuel Kant).

[Rz 3] Hochschild zeigt unter Grundlegung der Ideen Montesquieus auf, dass die Gewaltenteilung als anthropologisch indizierte Aufgabenstellung zu verstehen ist. Wer für die Verteilung der staatlichen Gewalt auf unterschiedliche Organe des Staates ist, erstrebt damit die Bändigung der Macht des Staates durch ein System des Miteinanders und des Gegeneinanders, von Trennung und Verschränkung, des Zusammenwirkens und des Kontrollierens von und durch diejenigen, denen die Macht anvertraut ist. Wer sich – wie Montesquieu – nicht auf die Tugendhaftigkeit der Menschen verlässt, sucht also nach Strukturen und Funktionsabläufen, die objektiv geeignet sind, Machtmissbräuchen vorzubeugen. Dies war für Zippelius „vielleicht die praktisch wichtigste Frage der Staatstheorie überhaupt“. Mit dem Autor muss festgestellt werden, dass die Geschichte Zippelius und Montesquieu Recht gibt.

[Rz 4] Die praktische Umsetzung der Grundidee Montesquieus stiess von Anfang an auf theoretische und praktische Bedenken, die vor allem politischen Bedürfnissen entsprangen. Diese führten zu allen Zeiten und in allen Ländern zu unterschiedlichen Umsetzungsmodellen der Gewaltenteilung. Immer bildet das von Montesquieu gezeichnete Bild vom Menschen, der dem Umgang mit seiner Macht oftmals nicht gewachsen ist, die „einheitliche Motivklammer“. Da es sich um eine zeitlose Problemstellung handelt, gibt es für Hochschild keinen Grund, von Montesquieu „Abschied zu nehmen“. Gibt es „das“ Gewaltenteilungsprinzip als definitorisch verbindliches Gewaltengliederungsmodell nicht und hat es dieses nie gegeben, so ist die Gewaltenteilung alles, was die von Montesquieu formulierte Notwendigkeit der Ausschaltung der Möglichkeit des Machtmissbrauchs konstruktiv in Formen von „checks and balances“ als objektive Grenzsetzungen umzusetzen sucht.

[Rz 5] Das deutsche Grundgesetz (GG) macht unstreitig die Gewaltenteilung zu einem Organisati-onsprinzip. Nach dem Wortlaut von Art. 20 II 2 GG wird die Staatsgewalt – ausgehend vom Volke durch Wahlen und Abstimmungen – von besonderen Organen der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt. Wie Hochschild aufzeigt, enthält der Wortlaut des Art. 20 II 2 GG allerdings keine eigene Aussage zu den organisationsrechtlichen Beziehungen, welche die dort genannten Organe miteinander unterhalten sollen und dürfen. Die Gewaltenteilung ist als Prinzip auf dem Weg zu ihrer Umsetzung in staatliche Organisationsstrukturen von normativem Charakter. Demgegenüber haben Begriffe wie Gewaltengliederung, Gewaltenverzahnung oder Gewaltenverschränkung keine normative, sondern eine deskriptive Bedeutung. Gerade zur Wahrung der Klarheit der Begriffe hält Hochschild darum an dem auf das 18. Jahrhundert zurückgehenden Begriff Gewaltenteilung in seiner „nicht überholten“, tradierten normativen Bedeutung fest.

[Rz 6] Die in Art. 97 I GG verbürgte richterliche Unabhängigkeit steht in engem Zusammenhang mit der in Art. 20 III GG hervorgehobenen Bindung der Rechtsprechung an Gesetz und Recht sowie dem in Art. 20 II 2 GG verankerten Grundsatz der Gewaltenteilung. Die richterliche Unabhängigkeit ist kein Standesprivileg der Richter, sondern soll diesen die von außen unbeeinflusste Erfüllung ihrer Aufgaben für die Bürger ermöglichen. Die Regierung oder die ihr nachgeordneten Organe dürfen die Entscheidungsfindung der Richter inhaltlich nicht beeinflussen können. Wie Hochschild darlegt, gibt es aber vielfältige Möglichkeiten, das Handeln von Menschen indirekt und subtil zu beeinflussen, so z.B. durch Karriereabhängigkeiten. Das Vertrauen der Bürger in den Rechtsstaat hängt aber – auch – davon ab, ob über ihre Angelegenheiten Richter entscheiden, auf deren Neutralität sie vertrauen. Hierbei geht es nicht zuletzt um ein gesellschaftliches Stabilisierungselement.

[Rz 7] Erfahrungsgemäss darf man sich, wie der Autor mahnt, nicht auf eine Betrachtung der Welt beschränken, wie sie sein soll. Erforderlich ist darum die Betrachtung der Verfassungswirklichkeit. Ein Ist-Zustand kann nur empirisch ermittelt werden, doch gehört Empirie nicht notwendig zu den Instrumentarien der Jurisprudenz. Die anthropologische Wirklichkeit ist meist nur am interdisziplinären Rande Gegenstand der Rechtswissenschaft. Aufgrund seiner eigenen beruflichen Erfahrung erachtet Hochschild Juristen als besonders gefährdet, „auf Worte fixiert an der Wirklichkeit vorbei zu denken“. So ist auch Art. 97 I GG zunächst nicht Wirklichkeit, sondern Rechtsnorm.

[Rz 8] Im zweiten Kapitel seiner Arbeit setzt sich der Autor mit der vorherrschenden Auslegung des Art. 92 erster Halbsatz GG auseinander, die der gegenwärtigen Justizorganisationsstruktur in Deutschland zur Rechtfertigung dient. Diese befasst sich mit den psychosozialen Auswirkungen der Verwaltung der rechtsprechenden Gewalt durch die ausführende Gewalt nicht wissenschaftlich. Während das Grundgesetz zum Schutze der Unabhängigkeit der Parlamentsabgeordneten eine Parlamentsautonomie für erforderlich hält (Art. 39 II, III Art. 40 GG), fehlen entsprechende Vorschriften für eine Autonomie der Träger der rechtsprechenden Gewalt. Dies mag historisch zu erklären sein, vermag aus psychosozialer Sicht aber nicht zu überzeugen. Die zitierten Kommentatoren des Grundgesetzes vernachlässigen aber diese Systemfrage. Auch das Bundesverfassungsgericht sieht die Unabhängigkeit der Richter durch die exekutivische Justizverwaltung nicht in einer psychologisch relevanten Weise gefährdet.

[Rz 9] Im dritten Kapitel untersucht Hochschild eingehend die Verfassungswirklichkeit in Deutschland, indem er die konkreten Möglichkeiten der Exekutiven zur Beeinflussung der Rechtsprechung darlegt. Wie eingangs erwähnt werden die deutschen Gerichte (mit Ausnahme des Bundesverfassungsgerichts) von den hierfür zuständigen Ressorts der Bundesregierung und der Landesregierungen verwaltet. Darüber hinaus besteht eine richterliche Mitwirkung an der Justizverwaltung (§§ 4 II Nr. 1, 42 DRiG), die als reine Exekutivtätigkeit nach herrschender Meinung nicht von der Unabhängigkeitsgarantie des Art. 97 I GG erfasst wird. Als Verwaltungsorgan steht aber ein Richter einem weisungsunterworfenen Beamten gleich, so dass auch diese Doppelstellung als Richter und als Verwaltungsorgan Probleme aufwirft, die nach den Darlegungen Hochschilds zwar juristisch, nicht jedoch praktisch gelöst sind. Er deklamiert, auch unter Zitierung Max Imbodens: „Wer die Möglichkeit hat, einen anderen zu beeinflussen, hat Macht über ihn. Macht ist nicht ein Attribut des Befehlenden, sondern des Gehorchenden….Macht ist Gratifikations- und Sanktionsmacht“.

[Rz 10] Dass sich gemäss Hochschild deutsche Richter von anderen Menschen nicht durch eine besondere Machtfestigkeit unterscheiden, ergibt sich für ihn schon aufgrund der juristischen Ausbildung, die in der Regel erfolgs- und damit examensorientiert verläuft. Die Aufnahme von über den rechtstechnischen Bereich hinausgreifenden Examensinhalten (z.B. Geschichte, Philosophie, Psychologie, Ethik, Soziologie) könnte demgegenüber nach seiner Überzeugung das Verständnis künftiger Richter für ihre gesellschaftliche Verantwortung stärken. Solche Auslesekriterien sieht § 5 DRiG allerdings nicht vor. Zum Richter kann man in Deutschland – wie übrigens auch in der Schweiz – nach einer ethikfreien Ausbildung ernannt werden. Darum geht Hochschild prima facie davon aus, dass sich im Querschnitt der Richter ein ebenso menschenübliches Maß an Gefolgsbereitschaft findet wie im Querschnitt der höheren Beamten und Angestellten. Die Exekutive fordert denn auch offen in Ausschreibungen von Direktoren- und Präsidentenstellen Loyalität gegenüber dem Justizministerium ein. Hochschild prägt dazu Sätze wie diese: „Richter sind als Menschen für die Macht empfänglich wie andere auch. Der Richtereid, nur der Wahrheit und Gerechtigkeit zu dienen, wird für Karriererichter zur Phrase“.

[Rz 11] Nach Hochschild haben die deutschen Regierungen die faktische Möglichkeit und damit die Macht, die Gerichte unangemessen ärmlich auszustatten, Richter nach ihrem Gusto auszuwählen, Richter über Benotungssysteme gefügig zu machen, Karrieren von Richtern zu manipulieren, Richter nach exekutivischen Bedürfnissen zu befördern, unfolgsame Richter abzustrafen, über die Ausgestaltung der Arbeitsbedingungen der Richter an den in den Prozessordnungen festgelegten Standards vorbei die Qualität der richterlichen Arbeit zu bestimmen, sowie Richter vom Tag der Einstellung an nach ihren Vorstellungen einzupassen und zu prägen. Hochschilds Fazit nach dieser Bestandesaufnahme fällt klar aus: Es gibt in Deutschland keine ausreichende organisatorische und funktionale Trennung von Exekutive und Judikative, d.h. die deutsche Exekutive hat durch die Verwaltung der Justiz die Macht, in einer Art und Weise auf die Richter einzuwirken, dass es nur noch von den Persönlichkeitsmerkmalen des einzelnen Richters abhängt, ob er sich dazu verleiten lässt, unter Hintanstellung seiner originär richterlichen Pflichten die politischen Ziele der Regierung zu unterstützen. Diese Macht haben die deutschen Regierungen ungeachtet davon, dass die Richter gegen Beeinträchtigungen ihrer Unabhängigkeit formell die Richterdienstgerichte anrufen können.

[Rz 12] Die vom Autor beschriebene Macht der Exekutive über die Judikative ist nach seinen Worten letztlich in Deutschland ebenso politisch gewollt wie sie andernorts politisch nicht gewollt ist, wobei sich Hochschild als Beispiel auf die Schweiz, Italien und Spanien bezieht. Der Einwand, von Richtern müsse man einfach erwarten können, dass sie solche Konflikte aushielten und sich nicht beugten, hat den Charakter eines Wunsches und ist weltfremd. Richter sind schliesslich Menschen wie alle anderen und auch sie wollen es im Leben „zu etwas bringen“. Demzufolge bestimmt Art. 97 I GG, gemäss dem die Richter „unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen“ sind, die deutsche Verfassungswirklichkeit nur in einem unzureichenden Maße. In der Realität sind die Richter vom ersten Arbeitstage an der Gewalt einer Regierung unterworfen. Diese Macht ist allein schon durch ihre Existenz wirkungsvoll, unabhängig davon, ob und wie von ihr Gebrauch gemacht wird. Der Rechtswissenschaft wirft Hochschild vor, zu verkennen, dass das, was auf dem Blatt Papier geschrieben steht, ohne eine zureichende Geltung bleibt, wenn die reale Lage der Dinge nicht dem Geschriebenen entspricht.

[Rz 13] Hochschild prüft anschliessend die Möglichkeiten, eine Beeinflussung der Rechtsprechung durch die Exekutive auszuschließen. Zunächst stellt er Modelle der Selbstverwaltung im Ausland dar. So steht in der Verwaltungsgerichtsbarkeit Portugals die Ernennung, die Versetzung, die Beförderung aller Richter, die Benotung der Richter erster Instanz und die Ausübung der Disziplinargewalt gegenüber den Richtern nicht dem Justizminister oder der Regierung zu, sondern einem mehrheitlich aus Richtern bestehenden Rat. Damit kann die Exekutive nicht durch Einstellungsauswahl und Beförderungsauslese auf die Personen der Verwaltungsrichter und über sie auf die Verwaltungsrechtsprechung Einfluss nehmen. In England wurden in den Jahren 2003 bis 2008 ein Justizverwaltungsrat und ein Richterwahlausschuss geschaffen, der aus fünf Richtern, zwei Laienrichtern, zwei Angehörigen anderer juristischer Berufe und sechs hochqualifizierten Mitgliedern aus nicht juristischen öffentlichen Bereichen besteht. Der Richterwahlausschuss hat die Kontrolle über alle Ernennungen von Richtern, und die Beurteilung von Richtern steht gänzlich unter der Kontrolle der Judikative. In Italien wählt das italienische Parlament – zu einem Teil – die Spitze der Judikative, nämlich den Obersten Richterrat [Consiglio Superiore della Magistratura]. Artikel 105 der italienischen Verfassung überträgt diesem Gremium die Anstellung und Beförderung von Richtern und Staatsanwälten sowie die Zuständigkeit für dienststrafrechtliche Maßnahmen. Damit sind auch indirekte Formen der individuellen Einflussnahme der Regierung auf Richter und Staatsanwälte unmöglich. Wie Hochschild ergänzt, hat die Einführung der Selbstverwaltung der italienischen Justiz statt des diesem Modell in Deutschland gerne unterstellten Stillstands zudem eine überaus dynamische Entwicklung bewirkt. In jeweils modifizierten eigenen Formen haben sich die Mitgliedstaaten der Europäischen Union an dem italienischen Vorbild orientiert. Die sog. Selbstverwaltungsmodelle garantieren die Unabhängigkeit der Richter von justizfremden Einflüssen einer anderen Staatsgewalt. Die Ausnahme bilden Deutschland, Österreich und Tschechien.

[Rz 14] Weiter beschäftigt sich Hochschild mit den Richterwahlen im Ausland, wobei er sich auf die Schweiz bezieht. Dort sind die verschiedensten Modelle der Richterwahl zu finden: Volkswahlen, Wahl durch das Parlament, Wahl durch die Exekutive (frühere eidgenössische Rekurskommissionen), Wahl durch die obersten kantonalen Gerichte. Er führt aus, dass die unmittelbare Volkswahl zu einer anderen Personalauslese führt, als wenn die Auswahl – wie in Deutschland möglich – von einem Referatsleiter in einem Justizministerium getroffen wird. Sich einer öffentlichen Volkswahl zu stellen, erfordert zudem Persönlichkeit, Mut und Risikobereitschaft. Um gewählt zu werden, bedarf es der Ausstrahlung und rhetorischen Talents. Wo ein Ministerialbeamter die Kandidaten nach Examensnoten aussucht, stehen demgegenüber die persönlichen Eigenschaften eines Kandidaten nicht im Vordergrund; die Auslese findet hinter verschlossenen Türen statt. Zudem unterwirft die Wahl auf Zeit den Richter einer unmittelbaren demokratischen Kontrolle. Wie bei auf Zeit gewählten Bürgermeistern kann man auch bei Richtern von einer Wiederwahl absehen. Der häufig zu hörende Einwand, die Schweizer Verhältnisse seien nicht mit den deutschen vergleichbar, da es sich nur um ein kleines Land handle, erachtet Hochschild als unpräzise und wenig hilfreich, zumal auch weitaus größere Staaten eine unmittelbare Volkswahl von Richtern kennen, so die USA.

[Rz 15] Anhand der vom Deutschen Richterbund und von der Neuen Richtervereinigung – von dieser unter dem Motto „Demokratie statt Hierarchie“ – vorgeschlagenen Selbstverwaltungsmodelle legt Hochschild dar, dass es Möglichkeiten gibt, auch in Deutschland eine Einflussnahme der Exekutive auf die Rechtsprechung zu verhindern oder entscheidend zu begrenzen und so das Prinzip der Gewaltenteilung in die Verfassungswirklichkeit umzusetzen. Indessen hat sich die Macht der deutschen Exekutiven über die Rechtsprechung in den letzten Jahrzehnten immer mehr entfaltet, wie Hochschild anhand ausführlich dargelegter Einzelbeispiele aufzeigt, so z.B. bezüglich der dienstlichen Beurteilung, der Geschäftsprüfung, der Ratschläge der Dienstaufsicht und der Neuen Steuerungsinstrumente (NSI). Zu letzteren fragt sich Hochschild, wohin eine Steuerung führen kann. Rechtsprechung ist geistig schöpferische Tätigkeit. Richter müssen die Freiheit zu eigenverantwortlichem Arbeiten haben, d.h. sich ausschließlich den Bürgerinnen und Bürgern und dem Gesetz verantwortlich fühlen. Es darf nicht sein, dass sich die Exekutive dank ihrer Gratifikations- und Sanktionsmacht neben oder sogar vor das für die Kontrolle des Richters allein zuständige Rechtsmittelrecht drängt und sich zur psychologisch wirkungsvollen „Steuerungsmacht“ aufschwingt.

[Rz 16] In Deutschland wird gegen die organisatorische Trennung von Exekutive und Judikative traditionell das Demokratieprinzip des Art. 20 II GG angerufen. Entscheidungen über die Auswahl der Richter wie auch die Verantwortung für das nichtrichterliche Personal und den Justizhaushalt könnten nicht einem Gremium übertragen werden, dem mehrheitlich oder ausschließlich Vertreter der Judikative selbst angehörten. Dass diese Argumente nicht stichhaltig sind, erläutert der Autor anhand ausländischer Organisationsformen. So sind die Mitglieder des spanischen Consejo General del Poder Judicial in demselben Maße unmittelbar demokratisch legitimiert wie ein deutscher Ministerpräsident selbst. Für den Autor wird in Deutschland im Kern ein anderes Menschenbild und Geschichtsverständnis zugrundegelegt als dasjenige von Montesquieu. Dieser vertraute nicht darauf, das demokratische Prinzip sei ausreichend, um den Machtmissbrauch von Herrschenden zu verhindern, weil diese an Verfassung, Gesetz und Recht gebunden seien. Aus historischer Erfahrung ist gemäss Hochschild darum der Blick für die Rangordnung zwischen Rechtsstaatlichkeit und Demokratie zu schärfen. So ist eine Rechtsstaatlichkeit ohne Demokratie wenigstens denkbar, doch kann es keine dauerhafte Demokratie geben ohne ein rechtsstaatliches Regelwerk, das ihr vorausgeht.

[Rz 17] Nicht selten wird schliesslich die These vertreten, die Gegenseitigkeit der Kontrolle der Staatsgewalten sei ein Wesenselement der Gewaltenteilung. Gerade in Deutschland zeigt sich nach Hochschild aber das Zerrbild einer „Gewaltenbalance“. Beispielsweise ist die Kontrolle der Exekutive durch die Verwaltungsrichter von gänzlich anderer Art als die Kontrolle der Exekutive über die Verwaltungsrichter. Verwaltungsrichter üben keine psychisch wirksame Macht aus über die Menschen, deren Verwaltungshandeln sie beanstanden. Anders die Exekutive. Mit der Befugnis zur Verwaltung der Verwaltungsrichter besitzt sie ein psychologisch wirksames Instrument zur Einwirkung auf die einzelnen Richter. Die Organe der Exekutive sind keine Dienstuntergebenen der Verwaltungsrichter, Organe der Exekutive sind aber deren persönliche Dienstvorgesetzte. Hochschild spricht von einer „gelebten Paradoxie“ und zeigt anhand ausländischer Beispiele, dass die Wechselseitigkeit der Kontrollmöglichkeiten im Verhältnis zwischen rechtsprechender und vollziehender Gewalt kein Wesenselement der Gewaltenteilung ist. Er führt den Schweizer Kanton Aargau an, wo die Richter der ersten Instanz und die Gerichtspräsidenten der ordentlichen Gerichtsbarkeit periodisch unmittelbar vom Volk gewählt werden, die des Obergerichts vom Parlament (Großer Rat). Die Geschäftsführung der Gerichtspräsidenten und der Bezirksgerichte steht unter der Aufsicht des Obergerichts, während das Parlament die Geschäftsführung des Obergerichts beaufsichtigt. Das Obergericht steht der Verwaltung der richterlichen Behörden vor und erstellt den Haushaltsentwurf für die richterlichen Behörden, den es an den Regierungsrat (Exekutive) weiterleitet. Stimmen die Anträge von Obergericht und Regierungsrat nicht überein, sind beide Anträge dem Parlament vorzulegen. Einer direkten oder indirekten Einflussnahme der Regierung oder gerichtsfremder Exekutivbehörden auf die Richter des Kantons Aargau ist auf diese Weise organisatorisch vorgebeugt. Hier gibt es keine gegenseitige Kontrolle zwischen Exekutive und Judikative.

[Rz 18] Wie aber – auch diese Frage stellt der Autor natürlich – ist richterlicher Willkür vorzubeugen? Denn auch die Richter können die ihnen vom Gesetzgeber gezogenen Grenzen überschreiten und so zugleich ihre Gesetzesbindung verletzen und das Demokratieprinzip missachten. Das Gewaltenteilungsprinzip will auch richterlichem Machtmissbrauch vorbeugen, doch bedarf es hierzu keiner Verwaltung der rechtsprechenden durch die vollziehende Gewalt. Die Kontrolle der Richter ist auf anderen Wegen möglich und kann auf unterschiedliche Weise erfolgen. Den Weg demokratischer Kontrolle beschreiten die Länder, in denen Richter vom Volk oder durch das Parlament auf Zeit gewählt werden. Hochschild führt dazu aus, dass ein Richter, über dessen Fehler die Presse berichtet, seine Wiederwahl gefährdet. Richter, die erneut gewählt werden wollen, sind über ihre gesamte Amtszeit hinweg einer wirkungsvollen sozialen Kontrolle unterworfen. Entscheidend sind aber unabhängige Rechtsmittelgerichte, was im Ermessen des Gesetzgebers liegt.

[Rz 19] Das vierte Kapitel stellt Hochschild unter den Titel „Gewaltenteilungsprinzip versus Hoffnungsprinzip“ und zieht das Fazit, dass in Deutschland die Verfassung verfassungswidrig interpretiert wird. Dies galt früher für den Gleichheitssatz von Art. 3 II GG (Gleichberechtigung von Mann und Frau) und gilt nach seiner Überzeugung bis heute für das im Grundgesetz hervorgehobene Prinzip der Gewaltenteilung des Art. 20 II 2 GG. Prinzipien verlangen dort nach Veränderung, wo die Wirklichkeit mit ihren Einsichten und Zielen nicht übereinstimmt. Die von Art. 20 II 2 GG im Jahre 1949 vorgefundene und bis heute in ihrer Grundstruktur unveränderte Verwaltung der Dritten Gewalt durch die Exekutive entspricht nicht den Zielen des Gewaltenteilungsprinzips. Die deutsche Verfassungswirklichkeit begnügt sich mit rechtlichen Appellen an die mit der Justizverwaltung betrauten Staatsorgane. Sie kennt keine faktischen staatlichen Organisationsstrukturen, die einen Eingriff der vollziehenden Gewalt in die Rechtsprechung von vornherein unmöglich machen. Ob man eine organisatorische Unabhängigkeit der deutschen Justiz haben will, ist keine verfassungsrechtliche, sondern eine politische Frage. Am Schluss des Buches fasst der Autor seine Ausführungen noch in Thesen zusammen.

[Rz 20] Am Ende dieser Rezension für die Schweizerische Richterzeitung muss sich der Blick unweigerlich auf unsere Verfassung und unser Staatsrecht richten. Wie verhält es sich anhand der von Hochschild dargelegten anthropologischen Einsichten („Macht ist nicht ein Attribut des Befehlenden, sondern des Gehorchenden. Macht ist Gratifikations- und Sanktionsmacht“) mit der richterlichen Unabhängigkeit in der Schweiz, die von BV Art. 30 I, 144 und 191c garantiert wird? Hochschild hebt die typisch schweizerische Wahl der Richter auf Zeit, die den Richter einer unmittelbaren demokratischen Kontrolle unterwirft, als positiv hervor, allerdings ohne vertiefte Auseinandersetzung mit der schweizerischen Verfassungswirklichkeit. Tatsächlich hat in der Schweiz im Gegensatz zur Bundesrepublik die Exekutive kaum Einflussmöglichkeiten auf die Gerichte. Und dies ist gut so! Aber ist das periodische Wiederwahlerfordernis, das neben der Schweiz einzig noch Japan und die US-State Courts kennen, in seiner bestehenden Form mit unseren Verfassungsprinzipien und insbesondere mit dem Gewaltenteilungsprinzip wirklich vereinbar? Stehen für den deutschen Richter „bloss“ achtbare und legitime Karrierechancen auf dem Spiel, sieht sich der schweizerische Richter in der Regel alle 4 oder 6 Jahre mit der realistischen Möglichkeit einer Nichtwiederwahl bzw. Abwahl konfrontiert, d.h. also mit nicht weniger als dem beruflichen „Aus“, das ihn und seine Familie in der Existenz trifft. Er muss sich also nach relativ kurzen Amtsperioden immer neu dem Wahlkörper „stellen“ und er weiss dies, und gar nicht so selten wird ihm dies sogar bedeutet. Denn dass ein jähes „Berufsverbot“ für einen schweizerischen Richter keinesfalls blosse Theorie ist, wie etwa eingewendet wird, belegt z.B. die von der Bundesversammlung im ersten Anlauf verweigerte Wiederwahl eines Bundesrichters im Dezember 1990 oder die bekannte Tatsache, dass eine Regierungspartei im Nachgang zu den Einbürgerungsentscheiden im Jahr 2003 (Fälle Emmen und Zürich) „ihren“ Bundesrichtern mit der Nichtwiederwahl drohte bzw. diese zur Rechenschaftsablegung zu sich „zitierte“. Welchen Effekt muss die periodisch wiederkehrende Möglichkeit der Abwahl auf den nach Art. 191c BV unabhängigen, in seiner rechtsprechenden Tätigkeit „nur dem Recht verpflichteten“, bei seinen Entscheiden naturgemäss exponierten Richter haben? Das Wiederwahlverfahren ist zweifellos geeignet, zur Disziplinierung von Richtern und zur Einmischung in die Rechtsprechung missbraucht zu werden. Das Volk, in der Regel aber auch die Parlamentarier sprechen ihr Wahlverdikt über den einzelnen Richter zudem unter dem Schutz der Anonymität und ohne Gewährung des rechtlichen Gehörs oder elementarer Verteidigungsmöglichkeiten aus. Unter diesen realen Umständen von den schweizerischen Richtern – mit den Worten Hochschilds – „einfach zu erwarten, dass sie solche Konflikte aushielten und sich nicht beugten, hat den Charakter eines Wunsches und ist weltfremd“. Sicher, in der Schweiz erfordert das Richteramt, wie Hochschild zu Recht positiv erwähnt, „Persönlichkeit, Mut und Risikobereitschaft“. Aber können und dürfen diese Eigenschaften von den Richtern vorab in Bezug auf ihre berufliche Existenz erwartet werden? Wohl kaum, und es wäre sicher nicht im Interesse der rechtsuchenden Bürger. Somit „hoffen und vertrauen“ doch auch wir einfach darauf, dass das Volk oder das Parlament sich seiner staatspolitischen und verfassungsmässigen Verantwortung bei anstehenden Wiederwahlen unserer Richter stets bewusst ist und darum ein Richter seine Entscheide immer nur nach dem Gesetz und frei von Gedanken an seine nach relativ kurzer Zeit wieder notwendig werdende Wiederwahl trifft. Dies entspricht mit den Worten von Hochschild – gerade in Zeiten zunehmender Polarisierung der Politik, wie sie die Schweiz erlebt – jedoch dem Hoffnungsprinzip, nicht dem Gewaltenteilungsprinzip. Zwar ist gemäss dem von Hochschild zitierten James Madison, einem der amerikanischen Verfassungsväter, „die Abhängigkeit vom Volk zweifellos das beste Mittel, staatlicher Macht Schranken zu setzen, die Menschheit hat aber aus Erfahrung gelernt, dass zusätzliche Vorkehrungen nötig sind“. Dachte Madison etwa bereits an die in den USA in neuerer Zeit vorgekommenen Fälle von politisch motivierten bzw. interessengesteuerten (gesponserten) Wahlen von Richterinnen und Richtern? Die von Hochschild als zeitlos erkannte Gewaltenteilungsproblematik ist, wenn auch unter anderen Vorzeichen, somit nicht nur in Deutschland von aktuellem Interesse. Und sie ist es in der Schweiz, wenn wir ehrlich sind, nicht weniger drängend als in unserem nördlichen Nachbarland! Was ist die von der Verfassung garantierte richterliche Unabhängigkeit wert, wenn der Richter weiss, nie ganz sicher sein zu können, nicht für seine einzig dem Gesetz verpflichteten Entscheide existentiell „bestraft“ zu werden? Auch seitens der schweizerischen Rechtswissenschaft (und Politik) ist darum von Montesquieu – wieder mit den Worten Hochschilds – „nicht Abschied zu nehmen“. Umso mehr ist diese in flüssigem Stil und spannend geschriebene deutsche Dissertation auch für Interessierte in der Schweiz lesenswert.

Zitiervorschlag Aldo Elsener, Rezension: Udo Hochschild, Gewaltenteilung als Verfassungsprinzip, in: «Justice – Justiz – Giustizia» 2011/1

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