Die institutionalisierte Abhängigkeit des Richters

Aus dem Text:

„…. Der Aufstieg in einer Hierarchie ist von dem Wohlwollen derjenigen abhängig, die diesen Weg schon gegangen sind und jetzt Spitzenpositionen in der Pyramide einnehmen. Was liegt für den Aufstiegsmotivierten näher, als sich die inhaltlichen Positionen der schon Aufgestiegenen zu eigen zu machen und sich so deren Wohlwollen zu erkaufen?….“

 

Udo Hochschild

Beitrag „Hierarchie und Karriere – die indtitutionalisierte Abhängigkeit des Richters“. Aus: Betrifft JUSTIZ Heft 1 Seite 1 (April 1985).

 

Neuerungen auf dem Gebiete des Strafprozeßrechtes, Änderung und Abschaffung (wie auch Schaffung) von Straftatbeständen, Reformen auf dem Gebiete des Zivilprozeßrechtes wie auch im materiellen Zivilrecht waren Inhalte sozialliberaler Rechtspolitik. Im wesentlichen außerhalb des Blickfeldes des Gesetzgebers blieben diejenigen, deren Aufgabe es ist, Gesetze konkret umzusetzen, im Geiste des Grundgesetzes mit Leben zu erfüllen: DIE RICHTER. Hier begnügte man sich mit peripheren Maßnahmen wie der “Abschaffung“ von Titeln und der Einführung einer eigenen Besoldungsordnung.

Eine Änderung des Gesetzestextes bleibt aber von eingeschränkter Wirkung, wenn diejenigen, die Recht zu sprechen haben, in überkommenen Vorstellungen verharren. Sind es nun nur soziales Herkommen und berufsspezifische Arbeitsweise, die dazu führen, daß Richter im allgemeinen dazu neigen, Gesetze im Sinne überkommener Ordnung, tradierter Moral, althergebrachten Vorurteils auszulegen oder ist ein gewichtiger Grund hierfür auch in der STRUKTUR DES JUSTIZAPPARATES selbst zu suchen und damit in der besonderen Art von Sozialsituation, welche der Richter in diesem Apparat erfährt?

Aufbau und Funktionsweise der Gerichte werden bestimmt durch das Gerichtsverfassungsgesetz des Jahres 1877. Man schuf damals den Justizapparat gemäß den Wertungen des preußisch geprägten Obrigkeitsstaates: hierarchisch gegliedert und autoritär geführt. Es gab ein klares oben und unten. Der „kleine“ Amtsrichter rangierte nicht nur im Bewußtsein der Öffentlichkeit, sondern auch nach seinem beruflich geprägten Selbstverständnis weit unter dem „hohen“ Reichsgerichtsrat. Daß seiner Meinung und seinen Entscheidungen von vornherein geringere Bedeutung zukam als denen des höheren Richters, verstand sich ganz von selbst. Die hierarchische Unterordnung manifestierte sich in der Unterschiedlichkeit der Gerichtsgebäude, innerhalb derselben durch je nach Rang verschiedene Ausstattung der Dienstzimmer und schließlich in Art und Umfang der jeweils zugebilligten Arbeitsmittel. Das Bewußtsein, nicht (oder: noch nicht) so „viel“ zu sein wie der Ranghöhere, prägte das Selbstwertgefühl des Richters, seine Haltung und bestimmte die Art seines Auftretens gegenüber dem höheren Kollegen. Dem Tieferstehenden wurde seitens des Höhergestellten nicht nur – ganz selbstverständlich – ein Unterwerfungsverhalten abverlangt, es sollte auch für beide von vornherein außer Frage stehen, daß die fachliche Leistung des letzteren von höherem Rang (zitierfähig) wäre.

Die hierarchische Gliederung der Justiz entsprach damit der allgemeinen staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung des Jahres 1877. Sie überdauerte aber das Jahr 1918, war Instrument des faschistischen Staates und hatte sich in ihrem strukturellen Aufbau auch nicht verändert, nachdem das Grundgesetz in Kraft getreten war, das eine völlig neue Staats- und Gesellschaftsordnung beschrieb; vielmehr war der seit dem Kaiserreich ungebrochen arbeitende Justizapparat zwischen den Jahren 1945 und 1949 längst wieder zur Tagesordnung übergegangen.

Nach Artikel 97 des Grundgesetzes sind die Richter UNABHÄNGIG und nur dem Gesetz unterworfen. Kann dieses Postulat in dem hierarchischen Gebäude der Justiz überhaupt hinreichend erfüllt werden?

Der Aufstieg in einer Hierarchie ist von dem Wohlwollen derjenigen abhängig, die diesen Weg schon gegangen sind und jetzt Spitzenpositionen in der Pyramide einnehmen. Was liegt für den Aufstiegsmotivierten näher, als sich die inhaltlichen Positionen der schon Aufgestiegenen zu eigen zu machen und sich so deren Wohlwollen zu erkaufen? Zum einen fühlen sich die Arrivierten durch ein solches Verhalten des Nachwuchses in ihrem eigenen früheren Verhalten bestätigt, zum anderen findet der Aufsteiger in der Anpassung eine Möglichkeit der Identifikation mit denen, die schon Karriere gemacht haben und von deren Urteil nun sein eigenes berufliches Fortkommen abhängt. Wer hingegen die inhaltlichen Positionen der Höhergestellten in Frage stellt, läuft im allgemeinen Gefahr, durch sein Tun zugleich das frühere Verhalten von Höhergestellten, die Art und Weise, in welcher jene ihren Karriereweg gegangen sind, in Zweifel zu ziehen und seine gleichrangigen Kollegen aus der schützenden Identifikation mit jenen aufzustören; er isoliert sich selbst.

So birgt schon die hierarchische Struktur als solche die Gefahr einer Verfestigung und Reproduktion der Wertungen von gestern, wird die richterliche Unabhängigkeit in Frage gestellt, befindet sich der Richter nach wie vor im Rahmen einer INSTITUTIONALISIERTEN ABHÄNGIGKEIT.

Das Bestreben der Richter sollte gerichtet sein auf den Abbau der hierarchischen Struktur des Justizapparates. Abschaffung der Richterkarriere wie auch aller Besoldungsunterschiede sollten immer wieder erhobene Forderungen sein. Unabhängig von diesem Fernziel müssen Richter darüber sprechen, wie sie in ihrem beruflichen Alltag hierarchische Zwänge umgehen und im konkreten Einzelfall deren verfassungsrechtliche Tendenz offenlegen könnten.

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Anmerkung:

31 Jahre später steht für mich nicht mehr das Verharren in überkommenen Denkstrukturen im Vordergrund, sondern die psychosoziale Wirkung von Hierarchie und Karriere im Richterberuf (letzte sechs Absätze).

Udo Hochschild

 

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