Mehr Selbstverwaltung der Justiz

Aus dem Text:

„… Den EU-Beitrittskandidaten unter den mittel- und osteuropäischen Staaten hat Brüssel nahegelegt, Selbstverwaltungselemente in die Justizverwaltung als Nachweis der Unabhängigkeit der Judikative zu implementieren….Würde eigentlich die Justiz in der Bundesrepublik Deutschland derzeit die Aufnahmekriterien der EU erfüllen? …“

 

Präsident des LG Geert W. Mackenroth, Itzehoe, und Direktor des AG Hanspeter Teetzmann, Delmenhorst *

Auszug (Kurzzitat) aus „Mehr Selbstverwaltung der Justiz. Markenzeichen zukunftsfähiger Rechtsstaaten“. Veröffentlicht in der Zeitschrift für Rechtspolitik [ZRP] (Verlag C.H. Beck) 2002, Seite 337 ff.

 

Der gewaltengeteilte moderne Rechtsstaat ruht seit Montesquieu auf den berühmten drei Säulen Legislative, Exekutive und Rechtsprechung. Wer einem dreibeinigen Hocker ein Bein amputiert, lässt ihn umfallen. Der Rechtsstaat Deutschland läuft Gefahr, dass der Wurm eines seiner Beine befällt.- Kein plötzlicher Sturz droht, aber die Dritte Staatsgewalt steht nicht mehr fest.

I. Einführung

„Der Weg zur Unabhängigkeit der Gerichte führt über die Leiche des Justizministers“ (1). Solche Sätze hören viele Justizminister verständlicherweise nicht gerne, und natürlich setzen sie sich gegen die lauter werdenden (2) Diskussionen über die herrschenden Justizstrukturen zur Wehr, verwechseln dabei gelegentlich erste Entwürfe und Diskussionspapiere wie das des Deutschen Richterbundes (3) mit Gesetzesvorlagen. Widerstand gibt es auch in der Dritten Staatsgewalt selbst; die Befürchtung, die Situation könne sich durch eine Veränderung des status quo eher noch verschlimmern, beherrscht manches Streitgespräch. Dennoch führt kein Weg an der Erkenntnis vorbei: Die bisherigen Justizstrukturen haben in der bundesdeutschen Rechtswirklichkeit partiell schwere Mängel für die Rechtssuchenden hervorgebracht – sie, die Rechtssuchenden, sind die vorrangigen Adressaten aller Bemühungen um eine bessere Struktur und um eine Qualitätsverbesserung in der Justiz, nicht die Richterinnen und Richter, Staatsanwältinnen und Staatsanwälte. Es ist damit an der Zeit, neue Wege zu diskutieren und gegebenenfalls zu erproben […..].

II. Bestandsaufnahme

Die herkömmliche Organisation hat der Justiz in den Ländern abweichend vom Idealbild des Grundgesetzes nirgends gute, selten zufriedenstellende, überwiegend schlechte Resultate beschert. Die Ergebnisse der durch die Firma Arthur Andersen im Auftrag der Justizministerkonferenz durchgeführten Untersuchungen zum Personalbedarf in Gerichten und Staatsanwaltschaften („PEBB§Y“ 4) hat die vielen Klagen aus der Justiz bestätigt und festgestellt: In Deutschland fehlen bundesweit mit 16% insgesamt rund 4000 Richter und Staatsanwälte. Richterinnen und Richter, Staatsanwälte und Staatsanwältinnen sind chronisch überlastet, kommen kaum noch hinterher, greifen zum Zweck der Steuerung der eigenen Überlast notgedrungen immer häufiger zu gelegentlich zweifelhaften und in der Öffentlichkeit nicht immer akzeptierten Erledigungsstrategien wie dem Deal oder der schnellen Verfahrenseinstellung im Strafrecht, dem vorschnellen Vergleich im Zivilprozess. Der faktische Zwang zum Deal relativiert das Recht (5). Hamburger Richterinnen und Richter haben im letzten Jahr auch öffentlich Alarm geschlagen: Sie könnten ihre Arbeit nicht mehr nach den rechtsstaatlichen Vorgaben bewältigen (6). Die Zahl der Richter und Staatsanwälte in Deutschland geht zurück: Waren es noch zum 1.1.1995 22134 Richter und 5375 Staatsanwälte (7), gab es zum 1.1.1999 gerade noch 20969 Richter und 4998 Staatsanwälte, ein Rückgang von bald 10% in vier Jahren […..].

Unzureichende Personal- und Sachausstattung stehen für den Stellenwert der Justiz im bundesdeutschen Staatsgefüge. In Zeiten desolater Länderhaushalte muss sich die Dritte Gewalt zudem dem Spardiktat der Exekutive unterwerfen […..].

III. Europa

Wie machen es die anderen? Deutschland ist nahezu umzingelt von Rechtsordnungen, die ihrer Justiz eine deutlich höhere Unabhängigkeit von der Exekutive bewilligen als hierzulande. Die südeuropäischen Länder Frankreich, Italien und Spanien (16) kennen die Selbstverwaltung der Gerichte seit langem, auch wenn die Ergebnisse […..] nicht immer befriedigen. Zahlreiche weitere europäische Länder haben in den letzten Jahren neue Strukturen für die Justizverwaltung geschaffen. Ungarn kennt einen Landesrechtspflegerrat, dem die Richter unterstellt sind (17). In Portugal hat die Verfassung 1997 einen obersten Rat der Gerichtsbarkeit (18) installiert, die dänischen Kollegen arbeiten seit 1999 mit einem Justizselbstverwaltungsrat (19). In den Niederlanden (29) führt seit Januar 2002 ein eigener „Rat für die Rechtsprechung“ als Selbstverwaltungsorgan die Dritte Staatsgewalt. Weiterhin planen Norwegen zum 1.11.2002 (21) sowie Polen die Einführung von Selbstverwaltungssystemen. Den EU-Beitrittskandidaten unter den mittel- und osteuropäischen Staaten hat Brüssel nahegelegt, Selbstverwaltungselemente in die Justizverwaltung als Nachweis der Unabhängigkeit der Judikative zu implementieren. Estland und Litauen haben dementsprechend Selbstverwaltungsorgane geplant, die ihre Arbeit im Jahre 2002 aufnehmen werden bzw. bereits aufgenommen haben. (22)

Niemand redet einer unkritischen Übernahme eines ausländischen Modells das Wort. Dennoch, provokativ gefragt: Würde eigentlich die Justiz in der Bundesrepublik Deutschland derzeit die Aufnahmekriterien der EU erfüllen? Manche Landsjustizministerien müssten sich kritische Nachfragen aus Brüssel gefallen lassen. In jedem Fall: Der Gedanke an einen Rechtsraum Europa steht der Selbstverwaltung der bundesdeutschen Justiz nicht entgegen, sondern legt sie eher nahe.

IV. (Mehr) Selbstverwaltung?

Mehr Eigenverantwortung und Deregulierung – dies entspricht dem Leitbild vom schlanken Staat. Warum sollen diese andernorts zum Standard erhobenen Prinzipien sich nicht auch für die Justiz mit Gewinn einsetzen lassen? Dabei ist der Justiz Selbstverwaltung durchaus nicht wesensfremd: Die Gerichtspräsidien, Organe der richterlichen Selbstverwaltung, verstehen es seit Jahrzehnten, sachgerecht die Geschäfte innerhalb der Gerichte zu verteilen. Von einer Verwirklichung des AKV-Prinzips, nach dem Aufgabe, Kompetenz und Verantwortung in einer Hand vereinigt sein sollen, kann allerdings auch hier keine Rede sein: Die Präsidien haben keinerlei Einfluss darauf, welches und vor allem wie viel Personal den Gerichten zugewiesen wird – sie verteilen den Mangel […..].

IX. Ausblick

Die Justiz erhebt nicht den Anspruch, all das, was bisher die Justizministerien erledigten, in eigener Regie automatisch schneller und besser bewältigen zu können. Richter und Richterinnen, Staatsanwältinnen und Staatsanwälte sollten allerdings nicht gescholten werden, wenn sie ihre Verantwortung ernst nehmen und den ihnen in Art. 6 EMRK und dem Grundgesetz erteilten Auftrag bestmöglich, d. h. besser als derzeit, zu erfüllen suchen. Justiz soll in qualitativ optimaler Weise dem gewährt werden, der ihren Schutz braucht. Wenn und soweit nur neue Strukturen dies ermöglichen, sind sie auszuprobieren. Die bisherigen Strukturen haben sich – leider, aber: definitiv – nicht überall anderen Modellen überlegen gezeigt.

Die Chance auf Strukturveränderungen – so die Unternehmensberater – wächst mit zunehmendem Leidensdruck und setzt Visionen voraus. Der Leidensdruck der Bürgerinnen und Bürger mit ihrer Justiz ist in vielen Bundesländern bereits jetzt (zu) groß. Die Vision einer selbstverwalteten Justiz verspricht – jedenfalls: dort – eine schnelle, effiziente, bürgernahe, zukunftsfähige, schlicht: eine bessere Rechtsprechung. Der Rechtsstaat sollte sich diese Option eröffnen.

* Der Autor Mackenroth ist Präsident des LG Itzehoe und Vorsitzender des Deutschen Richterbundes, der Autor Teetzmann ist Direktor des AG Delmenhorst sowie Mitglied des Präsidiums des Deutschen Richterbundes. Der Beitrag ist eine Entgegnung zu Mertin, ZRP 2002, 332.

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(1) vgl. Husen, AÖR 78 (1953), 49

(2) Die Forderungen sind nicht neu, vgl Mertin, ZRP 2002, 332 zum historischen Verlauf der Debatte und www.gewaltenteilung.de/juristentag1953.htm mit dem Abdruck der Gutachten, Referate und Beschlüsse des DJT 1953, nehmen jedoch in letzter Zeit an Intensität zu. Eine Reihe von Seminaren u.a. der AsJ in Hamburg (Februar 2000, Juni 2002) und wisssenschaftliche Tagungen etwa an der Universität Würzburg im April 2002 (DRiZ 2002, 216) haben das Thema aufgegriffen. Der DJT wird im September 2002 dem Thema sein „Aktuelles Forum“ widmen. Die engagierten Rechtspolitiker beteiligen sich an der Diskussion erfreulicherweise sehr konstruktiv.

(3) DRiZ 2002, 5; www.drb.de/selbstverwaltung. htm

(4) Hierzu DRiZ 2002, 123 f.

(5) Vgl. etwa Rudolph, DRiZ 1992, 6; Albrecht, DRiZ 1998, 326

(6) Vgl. etwa FAZ v. 9.6.2001. Der öffentlichkeitswirksam vorgetragene Protest von über 90 % der am LG Hamburg tätigen Richter/Richterinnen hat im Hamburger Bürgerschaftswahlkampf 2001 eine große Rolle gespielt und der Hamburger Justiz 19 neue Stellen verschafft.

(7) So die vom Bundesjustizministerium zu diesen Stichtagen veröffentlichen Statistiken.

(16) Hierzu zuletzt Häuser, Justiz 2002, 340.

(17) S. dazu www.ekormanyzat.hu/deutsch

(18) Art. 215, 217, 219 der Portugiesischen Verfassung von 1997.

(19) Vgl. Feier, DRiZ 2001, 436

(20) Vergl. den niederländischen Bericht zur 1. Studienkommission der internationalen Richtervereinigung.

(21) Vergl. den norwegischen Bericht zur 1. Studienkommission der internationalen Richtervereinigung.

(22) Vgl. deren Länderberichte für die internationale Richtervereinigung

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