Metaphysik der Sitten, Rechtslehre

Aus dem Text:

„…. Also sind es drei verschiedene Gewalten, wodurch der Staat seine Autonomie hat, d. i. sich selbst nach Freiheitsgesetzen bildet und erhält. – In ihrer Vereinigung besteht das Heil des Staats,….worunter man nicht das Wohl der Staatsbürger und ihre Glückseligkeit verstehen muß; denn die kann vielleicht (wie auch Rousseau behauptet) im Naturzustande, oder auch unter einer despotischen Regierung, viel behaglicher und erwünschter ausfallen: sondern den Zustand der größten Übereinstimmung der Verfassung mit Rechtsprinzipien versteht, als nach welchem zu streben uns die Vernunft durch einen kategorischen Imperativ verbindlich macht ….“

 

Immanuel Kant

1797 / 1798

 

§ 45

Ein Staat (civitas) ist die Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen. So fern diese als Gesetze a priori notwendig, d. i. aus Begriffen des äußeren Rechts überhaupt von selbst folgend (nicht statutarisch) sind, ist seine Form die Form eines Staats überhaupt, d. i. der Staat in der Idee, wie er nach reinen Rechtsprinzipien sein soll, welche jeder wirklichen Vereinigung zu einem gemeinen Wesen (also im Inneren) zur Richtschnur (norma) dient.

Ein jeder Staat enthält drei Gewalten in sich, d. i. den allgemein vereinigten Willen in dreifacher Person (trias politica): die Herrschergewalt (Souveränität), in der des Gesetzgebers, die vollziehende Gewalt, in der des Regierers (zu Folge dem Gesetz) und die rechtsprechende Gewalt (als Zuerkennung des Seinen eines jeden nach dem Gesetz) in der Person des Richters (potestas legislatoria, rectoria et iudiciaria), gleich den drei Sätzen in einem praktischen Vernunftschluß: dem Obersatz, der das Gesetz jenes Willens, dem Untersatz, der das Gebot des Verfahrens nach dem Gesetz, d. i. das Prinzip der Subsumtion unter denselben, und dem Schlußsatz, der den Rechtsspruch (die Sentenz) enthält, was im vorkommenden Falle Rechtens ist.

§ 46

Die gesetzgebende Gewalt kann nur dem vereinigten Willen des Volkes zukommen. Denn, da von ihr alles Recht ausgehen soll, so muß sie durch ihr Gesetz schlechterdings niemand unrecht tun können. Nun ist es, wenn jemand etwas gegen einen anderen verfügt, immer möglich, daß er ihm dadurch unrecht tue, nie aber in dem, was er über sich selbst beschließt (denn volenti non fit iniuria). Also kann nur der übereinstimmende und vereinigte Wille aller, so fern ein jeder über alle und alle über einen jeden ebendasselbe beschließen, mithin nur der allgemein vereinigte Volkswille gesetzgebend sein.

Die zur Gesetzgebung vereinigten Glieder einer solchen Gesellschaft (societas civilis), d. i. eines Staats, heißen Staatsbürger (cives), und die rechtlichen, von ihrem Wesen (als solchem) unabtrennlichen Attribute derselben sind gesetzliche Freiheit, keinem anderen Gesetz zu gehorchen, als zu welchem er seine Beistimmung gegeben hat ‚ bürgerliche Gleichheit, keinen Oberen im VoIk, in Ansehung seiner zu erkennen, als nur einen solchen, den er eben so rechtlich zu verbinden das moralische Vermögen hat, als dieser ihn verbinden kann; drittens, das Attribut der bürgerlichen Selbständigkeit, seine Existenz und Erhaltung nicht der Willkür eines anderen im Volke, sondern seinen eigenen Rechten und Kräften, als Glied des gemeinen Wesens verdanken zu können, folglich die bürgerliche Persönlichkeit, in Rechtsangelegenheiten durch keinen anderen vorgestellt werden zu dürfen.

Nur die Fähigkeit der Stimmgebung macht die Qualifikation zum Staatsbürger aus; jene aber setzt die Selbständigkeit dessen im Volk voraus, der nicht bloß Teil des gemeinen Wesens, sondern auch Glied desselben, d. i. aus eigener Willkür in Gemeinschaft mit anderen handelnder Teil desselben sein will. Die letztere Qualität macht aber die Unterscheidung des aktiven vom passiven Staatsbürger notwendig obgleich der Begriff des letzteren mit der Erklärung des Begriffs von einem Staatsbürger überhaupt im Widerspruch zu stehen scheint – Folgende Beispiele können dazu dienen, diese Schwierigkeit zu heben: Der Geselle bei einem Kaufmann, oder bei einem Handwerker; der Dienstbote (nicht der im Dienste des Staats steht); der Unmündige (naturaliter vel civiliter); alles Frauenzimmer, und überhaupt jedermann, der nicht nach eigenem Betrieb, sondern nach der Verfügung anderer (außer der des Staats), genötigt ist, seine Existenz (Nahrung und Schutz) zu erhalten, entbehrt der bürgerlichen Persönlichkeit, und seine Existenz ist gleichsam nur Inhärenz – Der Holzhacker, den ich auf meinem Hofe anstelle, der Schmied in Indien, der mit seinem Hammer, Amboß und Blasbalg in die Häuser geht, um da in Eisen zu arbeiten, in Vergleichung mit dem europäischen Tischler oder Schmied, der die Produkte aus dieser Arbeit als Ware öffentlich feil stellen kann, der Hauslehrer in Vergleichung mit dem Schulmann, der Zinsbauer in Vergleichung mit dem Pächter u. dergl. sind bloß Handlanger des gemeinen Wesens, weil sie von anderen Indviduen befehligt oder beschützt werden müssen, mithin keine bürgerliche Selbständigkeit besitzen.

Diese Abhängigkeit von dem Willen anderer, und Ungleichheit, ist gleichwohl keinesweges der Freiheit und Gleichheit derselben als Menschen, die zusammen ein Volk ausmachen, entgegen: vielmehr kann, bloß den Bedingungen derselben gemäß, dieses Volk ein Staat werden, und in eine bürgerliche Verfassung eintreten. In dieser Verfassung aber das Recht der Stimmgebung zu haben, d. i. Staatsbürger, nicht bloß Staatsgenosse zu sein, dazu qualifizieren sich nicht alle mit gleichem Recht. Denn daraus, daß sie fordern können, von allen anderen nach Gesetzen der natürlichen Freiheit und Gleichheit als passive Teile des Staats behandelt zu werden, folgt nicht das Recht, auch als aktive Glieder den Staat selbst zu behandeln, zu organisieren oder zu Einführung gewisser Gesetze mitzuwirken: sondern nur, daß, welcherlei Art die positiven Gesetze, wozu sie stimmen, auch sein möchten, sie doch den natürlichen der Freiheit und der dieser angemessenen Gleichheit aller im Volk, sich nämlich aus diesem passiven Zustande zu dem aktiven empor arbeiten zu können, nicht zuwider sein müssen.

§ 47

Alle jene drei Gewalten im Staate sind Würden, und, als wesentliche aus der Idee eines Staats überhaupt zur Gründung desselben (Konstitution) notwendig hervorgehend Staatswürden. Sie enthalten das Verhältnis eines allgemeinen Oberhaupts (der, nach Freiheitsgesetzen betrachtet, kein anderer als das vereinigte Volk selbst sein kann) zu der vereinzelten Menge ebendesselben als Untertans, d. i. des Gebietenden (imperans) gegen den Gehorsamenden (subditus). – Der Akt, wodurch sich das Volk selbst zu einem Staat konstituiert, eigentlich aber nur die Idee desselben, nach der die Rechtmäßigkeit desselben allein gedacht werden kann, ist der ursprüngliche Kontrakt, nach welchem alle (omnes et singuli) im Volk ihre äußere Freiheit aufgeben, um sie als Glieder eines gemeinen Wesens, d. i. des Volks als Staat betrachtet (universi) sofort wieder aufzunehmen, und man kann nicht sagen: der Staat, der Mensch im Staate, habe einen TeiI seiner angebornen äußeren Freiheit einem Zwecke aufgeopfert, sondern er hat die wilde gesetzlose Freiheit gänzlich verlassen, um seine Freiheit überhaupt in einer gesetzlichen Abhängigkeit, d.i. in einem rechtlichen Zustande unvermindert wieder zu finden; weil diese Abhängigkeit aus seinem eigenen gesetzgebenden Willen entspringt.

§ 48

Die drei Gewalten im Staate sind also erstlich einander, als so viel moralische Personen, beigeordnet (potestates coordinatae), d. i. die eine ist das Ergänzungsstück der anderen zur Vollständigkeit (complementum ad sufficientiam) der Staatsverfassung; aber, zweitens, auch einander untergeordnet (subordinatae), so, daß eine nicht zugleich die Funktion der anderen, der sie zur Hand geht, usurpieren kann, sondern ihr eigenes Prinzip hat, d. i. zwar in der Qualität einer besonderen Person, aber doch unter der Bedingung des Willens einer oberen gebietet; drittens, durch Vereinigung beider jedem Untertanen sein Recht erteilend sein. Von diesen Gewalten, in ihrer Würde betrachtet, wird es heißen: der Wille des Gesetzgebers (legislatoris) in Ansehung dessen, was das äußere Mein und Dein betrifft, ist untadelig (irreprehensibel), das Ausführungs-Vermögen des Oberbefehlshabers (summi rectoris) unwiderstehlich (irresistibel) und der Rechtsspruch des obersten Richters (supremi iudicis) unabänderlich (inappellabel).

§ 49

Der Regent des Staats (rex, princeps) ist diejenige (moralische oder physische) Person, welcher die ausübende Gewalt (potestas executoria) zukommt: der Agent des Staats, der die Magisträte einsetzt, dem Volk die Regeln vorschreibt, nach denen ein jeder in demselben dem Gesetze gemäß (durch Subsumtion eines Falles unter demselben) etwas erwerben, oder das Seine erhalten kann. Als moralische Person betrachtet heißt er das Direktorium, die Regierung. Seine Befehle an das Volk und die Magisträte, und ihre Obere (Minister), welchen die Staatsverwaltung (gubernatio) obliegt, sind Verordnungen, Dekrete (nicht Gesetze); denn sie gehen auf Entscheidung in einem besonderen Fall, und werden als abänderlich gegeben. Eine Regierung, die zugleich gesetzgebend wäre, würde despotisch zu nennen sein, im Gegensatz mit der patriotischen, unter welcher aber nicht eine väterliche (regimen paternale), als die am meisten despotische unter allen (Bürger als Kinder zu behandeln), sondern vaterländische (regimen civitatis et patriae) verstanden wird, wo der Staat selbst (civitas) seine Untertanen zwar gleichsam als Glieder einer Familie, doch zugleich als Staatsbürger, d. i. nach Gesetzen ihrer eigenen Selbständigkeit behandelt, jeder sich selbst besitzt, und nicht vom absoluten Willen eines anderen neben oder über ihm abhängt.

Der Beherrscher des Volks (der Gesetzgeber) kann also nicht zugleich der Regent sein, denn dieser steht unter dem Gesetz, und wird durch dasselbe, folglich von einem anderen, dem Souverän, verpflichtet. Jener kann diesem auch seine Gewalt nehmen, ihn absetzen, oder seine Verwaltung reformieren, aber ihn nicht strafen (und das bedeutet allein der in England gebräuchliche Ausdruck: der König, d.i. die oberste ausübende Gewalt, kann nicht unrecht tun); denn das wäre wiederum ein Akt der ausübenden Gewalt, der zu oberst das Vermögen, dem Gesetze gemäß zu zwingen, zusteht, die aber doch selbst einem Zwange unterworfen wäre; welches sich widerspricht.

Endlich kann, weder der Staatsherrscher noch der Regierer, richten, sondern nur Richter, als Magisträte, einsetzen. Das Volk richtet sich selbst durch diejenigen ihrer Mitbürger, welche durch freie Wahl, als Repräsentanten desselben, und zwar für jeden Akt besonders, dazu ernannt werden. Denn der Rechtsspruch (die Sentenz) ist ein einzelner Akt der öffentlichen Gerechtigkeit (iustitiae distributivae) durch einen Staatsverwalter (Richter oder Gerichtshof) auf den Untertan, d. i. einen, der zum Volk gehört, mithin mit keiner Gewalt bekleidet ist, ihm das Seine zuzuerkennen (zu erteilen). Da nun ein jeder im Volk diesem Verhältnisse nach (zur Obrigkeit) bloß passiv ist, so würde eine jede jener beiden Gewalten in dem, was sie über den Untertan, im streitigen Falle des Seinen eines jeden, beschließen, ihm unrecht tun können; weil es nicht das Volk selbst täte, und, ob schuldig oder nicht schuldig, über seine Mitbürger ausspräche; auf welche Ausmittelung der Tat in der Klagsache nun der Gerichtshof das Gesetz anzuwenden, und, vermittelst der ausführenden Gewalt, einem jeden das Seine zu Teil werden zu lassen die richterliche Gewalt hat. Also kann nur das Volk, durch seine von ihm selbst abgeordnete Stellvertreter (die Jury), über jeden in demselben, obwohl nur mittelbar, richten. – Es wäre auch unter der Würde des Staatsoberhaupts, den Richter zu spielen, d. i. sich in die Möglichkeit zu versetzen, Unrecht zu tun, und so in den Fall der Appellation (a rege male informato ad regem melius informandum) zu geraten.

Also sind es drei verschiedene Gewalten (potestas legisIatoria, executoria, iudiciaria), wodurch der Staat (civitas) seine Autonomie hat, d. i. sich selbst nach Freiheitsgesetzen bildet und erhält. – In ihrer Vereinigung besteht das Heil des Staats (salus reipublicae suprema lex est); worunter man nicht das Wohl der Staatsbürger und ihre Glückseligkeit verstehen muß; denn die kann vielleicht (wie auch Rousseau behauptet) im Naturzustande, oder auch unter einer despotischen Regierung, viel behaglicher und erwünschter ausfallen: sondern den Zustand der größten Übereinstimmung der Verfassung mit Rechtsprinzipien versteht, als nach welchem zu streben uns die Vernunft durch einen kategorischen Imperativ verbindlich macht.

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