Richter oder Justizbeamte?

Aus dem Text:

„…. Es bedurfte daher nicht der akuten Verfassungskrise, in der wir zur Zeit stehen, damit die vielgerühmte Dreiteilung der Gewalten sich als bloße Fiktion, als kaum verschleierte Verfassungslüge enthüllt….Der Richter, der unabhängiger Garant des Rechts und Kontrolleur des Gesetzgebers und der Verwaltung sein soll, entbehrt des Eigenstandes, der ihm seine Unabhängigkeit wirklich sichert. Er ist nach wie vor in das allgemeine Beamtenschema des Obrigkeitsstaates einbezogen ….“

 

Paul Wilhelm Wenger

RHEINISCHER MERKUR Nr. 9 vom 27.02.1953: „RICHTER ODER JUSTIZBEAMTE?. Zur Stellung der „Dritten Gewalt“ im modernen Massenstaat“.

 

 

Die Weimarer Republik, die dem totalen Parlamentarismus über das Notverordnungsrecht des Artikels 48 die Präsidialdiktatur androhte, endete mit der Aufhebung der Grundrechte und mit der Verschmelzung des Kanzler- und Präsidentenamtes in der Volkstribunenfigur des Einheitsparteiführers. Der Parteikanzler fraß den Präsidenten auf, als dieser ihn trotz seinem Oberbefehl über die Wehrmacht nicht mehr rechtzeitig losgeworden war. Daß nach dem Tode Hindenburgs der Reichsgerichtspräsident dessen verfassungsmäßiger Stellvertreter war, diese Reservestellung der Dritten Gewalt war für Hitler noch nicht einmal eine Ausrede wert, als er das höchste Amt an sich zog und sich post festum durch ein Plebiszit bestätigen ließ. Aber dies war mehr als eine bloße Arabeske, es war die bewußte Verhöhnung der Dritten Gewalt, und dieser Fußtritt bestätigte ihr, daß sie außerhalb des papierenen Textes keine Verfassungswirklichkeit geworden war.

Die Fiktion der Gewaltenteilung

Das Grundgesetz ging einen anderen, nicht minder gefährlichen Weg. Es gab dem Bundespräsidenten fast gar nichts, dafür aber alles den Parteien, obwohl diese laut Artikel 21 GG bei der politischen Willensbildung des Volkes lediglich „mitwirken“ sollten, also durchaus nicht das Monopol zugesprochen bekamen, das sie heute nicht nur in der Gesetzgebung, sondern auch in der Verwaltung in Anspruch nehmen. Die normale Justiz blieb im alten, untergeordneten Rahmen des allgemeinen Beamtenstatus, der seit dem Abtreten der Landesfürsten keinen persönlichen und überparteilichen Bezug mehr hat. Dafür wurde eine nahezu unbegrenzte Verfassungsjustiz erfunden, bei der, nach einem Wort des Göttinger Staatsrechtslehrers Prof. Dr. Werner Weber, die Politik nichts zu gewinnen, die Justiz aber alles zu verlieren hat. Schließlich wurde, welch ein Hohn!, die Zusammensetzung dieses omnipotenten Übersouveräns nicht dem Bundespräsidenten als überparteilichem Wächter der Unabhängigkeit der Justiz übertragen, sondern sie wurde in doppelter Weise den Parteien ausgeliefert.

Es bedurfte daher nicht der akuten Verfassungskrise, in der wir zur Zeit stehen, damit die vielgerühmte Dreiteilung der Gewalten sich als bloße Fiktion, als kaum verschleierte Verfassungslüge enthüllt. Das groteske Phänomen, vor dem wir stehen, ist die „Demokratisierung“ am jeweils falschen Platze. Der Richter, der unabhängiger Garant des Rechts und Kontrolleur des Gesetzgebers und der Verwaltung sein soll, entbehrt des Eigenstandes, der ihm seine Unabhängigkeit wirklich sichert. Er ist nach wie vor in das allgemeine Beamtenschema des Obrigkeitsstaates einbezogen. In seiner Anstellung und vor allem in seiner Beförderung, die sich auch materiell auswirkt, ist er den parteipolitisch besetzen Justizministerien der Länder unterstellt, wobei es auf die Dauer vom Zufall, d.h. vom Grad der persönlichen Integrität des jeweiligen Justizministers und seines Personalreferenten abhängt, ob und wie weit der Richter in die direkte Abhängigkeit von den Parteibüros gerät. Die Enthüllungen des Bundesrichters Dr. Beyer über die SPD-Personalpolitik in Niedersachsen zeigen erschreckend deutlich, wie sehr wir uns in einigen Ländern schon der unteren Grenze und damit der Vernichtung des Rechtsstaates zubewegen.

Statt der notwendigen Selbstbeschränkung der Parteien erleben wir – in einem fortgesetzten Danebengreifen bei der Bestimmung des demokratischen Nachholbedarfs – den Raubbau an den bestehenden Autoritäten.

„Justitia am Bettelstab“

Daß die deutschen Richter dieser negativen Verfassungsentwicklung tatenlos zusehen, daß sie vor allem die Auslieferung der Verfassungsjustiz an die Parteien ohne Aufschrei hingenommen haben, zeigt, wie sehr wir uns an die Fiktion von der Selbständigkeit der „Dritten Gewalt“ gewöhnt haben. Ihre außerberufliche Energie richtet sich fast nur noch darauf, jener proletarischen Einwalzung zu entgehen, die in Form der materiellen Verelendung seit der Inflation nach dem ersten Weltkrieg über sie verhängt ist. „Justitia am Bettelstab – Totalausverkauf unserer Richterschaft“: mit diesen plastischen Bildern hat Dr. Müller-Meiningen in der SZ vom 29. Januar das Fazit dieser materiellen Mißhandlung gezogen. Er sieht das „große Grausen vor unwürdiger Ausbeutung“ mit Recht in der beruflichen Reaktion jener Assessoren, die ihr Examen mit „gut“ oder mit „sehr gut“ bestanden haben. 1948 gingen von diesen Gutqualifizierten in Bayern noch 55,7 v. H., 1952 aber nur mehr 1O,7 v. H. in den Staatsdienst. So bekommt der Staat quittiert, was er für die Rechtspflege etatmäßig übrig hat. Die Zeche wird sehr bald das Volk zu bezahlen haben.

Man versucht jetzt allerorts eifrig, an den materiellen Symptomen herumzudoktern, und mit ruhegehaltsfähigen Zulagen, Vermehrung der Beförderungsstellen und früherer Pensionierung die Richter wenigstens auf das allgemeine Beamtenniveau zu heben, unter das sie herabgesunken sind, weil die Justizetats auf dem Niveau des vorigen Jahrhunderts stehengeblieben sind.

Aber damit ist nichts gewonnen. Im Gegenteil, die solchermaßen „betreute“ Richterschaft gerät dabei nur in den Verdacht, auch bloß ein Regiment im großen Armeekorps derer zu sein, die zum Sturm auf die Staatskasse angetreten sind. Sie sollte ihr Anliegen als umfassendes Verfassungsanliegen vortragen und sich nicht – wie bisher – ängstlich dagegen abschirmen, daß ihr Anspruch auf eine durchgängige Sonderstellung als Streben nach „Privilegierung“ innerhalb der großen Beamtenschaft verstanden und dann gerade von dieser torpediert werden könnte. Aber – zentralgläubig, wie die Deutschen nun einmal sind – warten auch unsere Richter auf ein „Bundesrahmengesetz“, anstatt durch gute Ländergesetze dem Bund zuvorzukommen und die volle richterliche Selbstverwaltung an die Spitze ihrer Forderungen zu stellen. Noch immer sind jene Forderungen unerfüllt, die hier am 25. Mai 1951 in dem Artikel „Das Ende des Bundesstaates?“ als Aufgaben eines schöpferischen Föderalismus gerade unseren allzu zahlreichen Länderetatisten entgegengehalten worden sind, nämlich:

Erlösung des Beamtentums aus dem ewigen Wechselbad der schwankenden Koalitionen.
Stärkung der richterlichen Gewalt durch die Schaffung eines von der BeförderungsfuchteI des politischen Referenten befreiten Richterstandes, der in ähnlicher Weise autonom sein müßte, wie es ehedem die Senate der Universitäten waren.
Die politische Verortung der übergreifenden Lebensgemeinschaften in Zweiten Kammern.“

Solange der Deutsche Richterbund in falsch verstandener Wahrung seiner parteipolitischen Neutralität sich nicht dazu durchringt, gerade auf Grund einer Überparteilichkeit zum unbeugsamen Sachwalter eines überparteilichen Staatsethos zu werden und sich als solcher zu Gehör zu bringen, solange kann er auch keine durchgreifende Remedur seiner materiellen Misere erwarten. Wenn er sein Standesanliegen nicht als unabdingbares Verfassungsanliegen formuliert, läuft er sogar Gefahr, die jetzigen Strukturfehler der Verbeamtung selbst zu verewigen, so vor allem, wenn mit einer Erhöhung der Beförderungsstellen operiert wird anstatt den Generalfehler – nämlich die Behandlung der Richter als Beamte – frontal anzugreifen.

Im Gegensatz zu dem Präsidium des Deutschen Richterbundes, das sich an den Gedanken der richterlichen Selbstverwaltung nur sehr zögernd herantastet, hat der Richterbund von Rheinland-Pfalz Anfang Dezember letzten Jahres gerade den Eigenstand der Richter ins Zentrum seiner Reformbestrebungen gestellt. „Wenn Macht und Recht gemeinsame Organisationsformen haben, ist die Möglichkeit einer Verwechslung von Recht und Macht leichter gegeben als bei getrennten Organisationsformen für die Staatsverwaltung auf der einen und für die Justiz auf der anderen Seite.“ Dieser Satz steht an der Spitze der Mainzer Resolution, und er ist nichts anderes als die wissenschaftliche Umschreibung des bitteren Tatbestandes, daß nach dem Sturz der Landesfürsten die dem preußischen Militär nachgebildete Organisation der Justiz es jedem Diktator erlaubt, diesen „Zweig der Verwaltung“ in sein System einzubeziehen, wie es die Beispiele Hitlers und sämtlicher Volksdemokratien, vor allem auch die Sowjetzone beweisen. Hier nun setzt die Mainzer Resolution, die auf ein vorzügliches Referat des- Koblenzer Landgerichtsdirektors Dr. Bernhard Hülsmann zurückging, ein, indem sie feststellt, daß eine „durchgreifende Justizreform ohne eine institutionelle Umwandlung des Justizwesens undenkbar“ ist, wenn man wirklich vom „Typus des Rechtsbeamten zum Urtyp des Richters“ gelangen will.

Den Umkreis der notwendigen Reformen umriß Dr. Hülsmann wie folgt: „Wir haben den Kampf anzusagen dem Rechtspositivismus jeglicher Art. Die Stabilität der Rechtsprechung ist durch eine umfassende Richterautonomie mit eigener Haushaltsführung entsprechend den Rechnungshöfen der Länder zu konstituieren. Mit den Anwalts- und Notarskammern ist eine organische Verbindung herzustellen, da die Rechtsprechung auf beiden Säulen beruht. Die Gerichte sind im umfassenden Sinn zu vereinheitlichen und sowohl von jeder Verwaltungstätigkeit wie auch von Bagatellsachen zu entlasten. Die Präsidenten der Gerichte sind aus den Gremien der Richter jeweils auf begrenzte Zeit zu wählen. Niemand kann Richter werden, bevor er nicht durch vielseitige Lebenserfahrung und insbesondere Tätigkeit als Anwalt genügend Lebensreife gewonnen hat. Nichtplanmäßige Richter dürfen nicht bestellt werden. Zur Unterstützung der Richter und zur Erweiterung des Ausbildungsganges sind, wie im angelsächsischen Recht, Substitute einzusetzen. Der Richterstand ist besoldungsmäßig so weit herauszuheben, daß auch bedeutende Anwälte den Anreiz verspüren, in einem bestimmten Lebensabschnitt in den Richterstand herüberzuwechseln. Entsprechend der Konstituierung einer eigenen Richterkörperschaft sind die Justizministerien durch ein Justizdirektorium zu ersetzen, mit einem von den Richtern und Anwälten auf Zeit gewählten Justizdirektor an der Spitze. Im Wege einer grundlegenden Verfassungsreform ist eine Zweite Kammer zu bilden, in der die Richter an der Gesetzgebung mitzuarbeiten haben.“

Ausländische Vorbilder

Der Eigenstand der Richterschaft ist in einigen unserer Nachbarländer längst als eine unabdingbare Voraussetzung für die Kontrollfunktion der „Dritten Gewalt“ erkannt und eingeführt worden. So hat vor allem Frankreich in seiner Verfassung von 1946 einen Obersten Justizrat eingeführt, der sich wie folgt zusammensetzt: Vorsitzender ist der Präsident der Republik, Stellvertreter der Justizminister. Dazu treten sechs Personen, die von der Nationalversammlung außerhalb ihrer Reihen gewählt werden. Die in vier Wahlkörperschaften aufgeteilten Richter wählen vier Richter auf sechs Jahre hinzu. Zwei weitere Juristen, die weder Richter noch Parlamentarier sein dürfen, werden vom Präsidenten ebenfalls auf sechs Jahre ernannt. Der Vorsitz des. Staatsoberhauptes sichert die völlige Heraushebung aus der Exekutive, die nur eine unter vierzehn Stimmen innehat. Auf Vorschlag dieses Obersten Justizrats ernennt nun der Staatspräsident die Richter. Im übrigen sorgt der Oberste Justizrat für das pflichtgemäße Verhalten und für die Unabhängigkeit der Richter. Die Dienstaufsicht und die ressortmäßige Behandlung der Gerichte ist demselben Gremium übertragen und dem Justizminister, der damit reiner Gesetzgebungsminister und Großsiegelbewahrer geworden ist, entzogen.

Einen ähnlichen Weg beschritt auch die neue italienische Verfassung von 1947. Ihr Artikel 104 bestimmt: „Die Gerichte bilden eine selbständige Gewalt, die unabhängig von jeder anderen Gewalt ist.“ Im Obersten Justizrat führt der Präsident der Republik den Vorsitz. Ferner gehören ihm an der Präsident und der Generalstaatsanwalt des Kassationshofes. Die anderen Mitglieder werden zu zwei Dritteln von allen ordentlichen Richtern gewählt und zu einem Drittel aus den Reihen der ordentlichen Hochschullehrer der Rechtswissenschaft und der Anwälte nach fünfzehn Berufsjahren. Der Justizminister aber gehört dem Obersten Justizrat nicht an. Artikel 105 überträgt diesem Gremium Anstellung und Beförderung der Richter sowie dienststrafrechtliche Maßnahmen.

Man darf die begründete Hoffnung hegen, daß diese neuartigen Formen, die hier noch viel zu wenig bekannt sind, vor allem durch die internationalen Begegnungen der Richter ausstrahlen und dem hierzulande noch sehr schwachen Reformwillen den nötigen Auftrieb geben.

Verpaßte Chancen

Die nächste Gelegenheit, neue Wege zu beschreiten, war die Verfassung des Südweststaates, um so mehr, als einer seiner begeistertsten Vorkämpfer, der Tübinger Staatsrat und Professor Dr. Eschenburg, sich davon eine durchgängig neue Konzeption des Staatsaufbaues und vor allem eine wirkliche Herauslösung der Richterschaft aus dem parteipolitischen Getriebe versprochen hat. Eschenburg schlägt einen Chef der Justizverwaltung an Stelle des bisherigen Justizministers vor, der die Befähigung zum Richteramt haben muß. Als Wahlkörper sieht er sämtliche Richter im Präsidentenamt vor, dazu die Dekane und Prodekane der juristischen Fakultäten und je drei Vorstandsmitglieder der Anwaltskammern bzw. der Rechtsanwaltsvereine. Richter und Beamte und Angestellte der Justizverwaltung sollen vom Staatspräsidenten auf Vorschlag des Chefs der Justizverwaltung ernannt werden.

Es ist ein Teil der deutschen Verfassungstragödie, die wir gerade jetzt im Südweststaat erleben, daß alle diese echten Reformansätze im Keim erstickt wurden. Daß dies so leicht möglich war, liegt nicht zuletzt an der Apathie der deutschen Richter, die sich zum großen Teil damit abgefunden haben, im alten Exekutivstil weiterbehandelt zu werden. Für diesen Zustand ist es bezeichend, daß die Richter des Bundesverfassungsgerichts die Verwaltungsautonomie zwar für sich selbst, nicht aber durchgängig für das ganze Gerichtswesen gefordert haben. Es liegt an den deutschen Richtern selbst, endlich aus einer falschen staatspolitischen Reserve herauszutreten, dieses Verfassungsanliegen nicht mehr von der Tagesordnung verschwinden zu lassen und sich mit jenen Politikern zu verbünden, die das Ohr am Puls der Zeit haben. Diejenige Partei, die diese Selbstbändigung des Parteienstaates auf ihr Programm schreibt, wird sich um mangelnde Resonanz nicht zu sorgen brauchen!

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