Die vergessene Freiheit

Aus dem Text:

„…. Sieger im Kampf um Ressourcen sind diejenigen, die der Politik zum Erfolg verhelfen. Dies würdigt die Dritte Gewalt zu einem bürokratischen Erfüllungsgehilfen herab. Darin liegt eine Gefahr für den demokratischen Rechtsstaat insgesamt ….

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…. Das praktische Versagen des Richtervorbehalts steht in Zusammenhang mit dem Zeitdruck, den der sicherheitspolitische Wettbewerb den Gerichten auferlegt. Aufgrund dieses Zeitdrucks wird auf der Grundlage von Sachverhalten entschieden, die nur aus der Sicht von Polizei und Staatsanwaltschaft aufbereitet wurden. Im Ergebnis stellt der Richtervorbehalt ein dünnes Feigenblatt des Rechtsstaats für die verfassungsrechtliche Zumutung des Geheimprozesses dar ….“

 

Prof. Dr. Peter-Alexis Albrecht, Frankfurt a.M.

Aus: „Die vergessene Freiheit. Strafrechtsprinzipien in der europäischen Sicherheitsdebatte“. Berliner Wissenschafts-Verlag 2006

 

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Seiten 149 ff.

Gesetzlicher Richter

Selbst einem Generalstaatsanwalt kann es im sicheren Staat unbehaglich werden. Es regt sich so etwas wie Widerstand, den folgende Meldung in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 11.05.2002 eindrucksvoll belegt: „Die deutschen Generalstaatsanwälte betrachten die Einrichtung einer europäischen Staatsanwaltschaft mit Skepsis“. Der württembergische Generalstaatsanwalt wird wie folgt zitiert: „Zwar seien gemeinsame europäische Einrichtungen notwendig, da die Kriminalität immer internationaler werde. Doch sei beispielsweise zu befürchten, daß sich der europäische Staatsanwalt seinen Haftbefehl in dem Mitgliedsland besorge, in dem dieses am leichtesten möglich sei. Das sei angesichts der strengen deutschen Vorschriften bedenklich“. Diese Bedenken sind vor dem Hintergrund der in einem Fachaufsatz veröffentlichten Auffassung zweiereuropäischer Ministerialbeamter (170) um so gewichtiger, als diese empfehlen, der europäische Staatsanwalt solle in dem Mitgliedstaat anklagen dürfen, wo eine Verurteilung am leichtesten zu erreichen sei. Hier sind wir mitten im Prinzip des gesetzlichen Richters, was nicht nur eine „strenge deutsche Vorschrift“ ist, sondern ein fundamentaler Grundsatzeuropäischer Rechtsstaatlichkeit. Was besagt dieser Grundsatz?

1. Anspruch und Inhalt

Das Prinzip des gesetzlichen Richters wird regiert von einem elementaren Grundsatz des demokratischen Rechtsstaats: der Unabhängigkeit der Justiz. Gesetzliche Richter sind unabhängige Richter, und umgekehrt. Gesetzmäßige Richter und unabhängiger Richter gehören untrennbar zusammen. Die Unabhängigkeit der Dritten Gewalt ist eine tragende Säule aller freiheitlichen Rechtsordnungen in Europa. Im Grundgesetz ist sie in Art. 97 normiert. Die Bedeutsamkeit dieses Grundsatzes ergibt sich nicht zuletzt, aufgrund der historischen Erfahrungen mit seinem Gegenteil – der Werkzeugfunktion der Justiz im totalitären Staat. Diesen Erfahrungen setzt das Grundgesetz das aus den Freiheitsbewegungen des 19. Jahrhunderts hervorgegangene Programm der Aufklärung entgegen. In Deutschland wurde dieses Programm bereits in der Paulskirchenverfassung von 1848 niedergelegt. Diese Verfassung trat nie in Kraft, setzte aber der künftigen Verfassungsentwicklung verbindliche inhaltliche Maßstäbe, hinter die es kein Zurück mehr gab. Damals wie heute prägten drei Elemente das Prinzip der richterlichen Unabhängigkeit, nämlich sachIiche, persönliche und innerliche Unabhängigkeit. Damit sind drei Elemente benannt, die klare Verhältnisse schaffen zwischen Justiz und Politik, zwischen Justiz und exekutivischer oder legislativer Macht. Ein Richter soll sein Amt weisungsfrei ausüben können, seine Rechtsposition soll auch in wirtschaftlicher Hinsicht gesichert sein, gegenüber Dritten muß er sich nicht verantworten. AlI diese Elemente versetzen den Richter – jedenfalls dem Anspruch nach – in die Lage, seiner Kontrollaufgabe gegenüber der Politik nachzukommen. Der unabhängige Richter kennt nur eine entscheidende Begrenzung: das freiheitliche Gesetz.

Montesquieu faßt das Leitprinzip richterlicher Unabhängigkeit zusammen: Die Richter der Nation seien lediglich der Mund, der den Wortlaut des Gesetzes spreche. Sie seien Wesen ohne Seele, die weder die Stärke noch die Strenge des Gesetzes mildern können. (171) Der Richter solle ungebeugt sein von den Gedanken und Eindrücken anderer und unbeeinflußt von den „Launen der Natur“. (172) Was Montesquieu als Inhalt richterlicher Unabhängigkeit definiert, ist ohne die Idee der Freiheit nicht zu haben. Freie Entscheidungen – so die Vorstellung der Aufklärung – ergeben sich gerade dadurch, daß sich der Mensch mittels seiner gedanklichen Kraft über spontane Neigungen oder emotionale Leidenschaft, die sein Handeln beeinträchtigen können, hinwegsetzen kann. Gesetzesanwendung wird dem Gedanken der Freiheit daher gerecht, wenn sie vorurteils- und emotionsfrei erfolgt. Das meint Monlesquieu, wenn er verlangt, daß der Richter „gleichsam ohne Seele“ urteilen solle. Das Gesetz, das er anwendet, bewahrt den Menschen vor seinen emotionalen Verblendungen, es sichert so Freiheit, Gerechtigkeit und persönliche Sicherheit im Staat. Darin lag die Hoffnung richterlicher Unabhängigkeit in der Idee der Aufklärung.

Ohne das Prinzip des gesetzlichen Richters ist dessen Unabhängigkeit kaum zu realisieren. Im deutschen Recht ist der Grundsatz verfassungsrechtlich in Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verankert. Für das Strafrecht bedeutet er, daß man sich das Gericht, das über die Tat verhandelt, nicht aussuchen kann. Vielmehr ist das zuständige Gericht bereits zuvor festgelegt. (173) Sachliche, örtliche und funktionelle Zuständigkeit müssen von Gesetzes wegen bereits feststehen. Ebenso muß die Besetzung des Gerichts vorab bestimmbar sein. Damit soll vermieden werden, daß die Person des entscheidenden Richters nach sachfremden Gesichtspunkten, also willkürlich ausgewählt wird. Es ist das vorrangige Ziel des Gebots, Eingriffe Dritter in die Rechtspflege zu verhindern, um so Unparteilichkeit und Sachbezogenheit der Dritten Gewalt abzusichern. Urteilt ein nicht zuständiger Richter und besteht dabei die Möglichkeit, dass eine andere Entscheidung getroffen worden wäre, so hat dies die Aufhebung des ergangenen Urteils zur Konsequenz.

Den praktischen Kern haben die Prinzipien des unabhängigen und gesetzlichen Richters in der freien Beweiswürdigung nach § 261 StPO. Die Würdigung der Beweise ist ureigene Aufgabe des Richters. Nicht Polizei, nicht Staatsanwaltschaft, auch nicht die Strafverteidigung haben über Wert und Verwertung der Beweise zu befinden, sondern nur der Richter. Die „Wahrheit“ des Falles zu suchen, sie aufzuklären und festzustellen ist der Gegenstand der freien Beweiswürdigung. Dabei ist das Gericht nicht an Beweisregeln oder sonstige Richtlinien gebunden, die ihm vorschreiben würden, unter welchen Voraussetzungen es einen Umstand für bewiesen oder nicht bewiesen zu halten hat, oder welcher Wert einem vorhandenen Beweismittel beizumessen ist. Freiheit der Beweiswürdigung bedeutet indes nicht richterliche Willkür. Vielmehr ist der Richter verpflichtet, die für seine Überzeugung entscheidenden Umstände nachvollziehbar im Urteil darzulegen. Mangelt es an dieser Nachvollziehbarkeit, kann das Urteil gegebenenfalls in der Revision aufgehoben werden. Richterliche Selbstkontrolle ist unverzichtbarer Bestandteil jeder richterlichen Unabhängigkeit.

Unabhängigkeit der Justiz umfaßt auch die Aufgabe einer begrenzten Fortbildung des Rechts…..Bei aller Auslegungskunst und aller Dynamik der Abwägungen im Einzelfall markiert das Gesetz aber die unübersteigbare Schranke der richterlichen Unabhängigkeit. In der Verpflichtung auf die Strafgesetzlichkeit gewinnt die unabhängige Justiz die notwendige inhaltliche Kontur. Erst die Verpflichtung auf die Unverbrüchlichkeit des Strafgesetzes macht den unabhängigen Richter zum gesetzlichen Richter.

2. Zur Rechtswirklichkeit in Deutschland

KriminalpoIitik und Strafgesetzgebung haben sich seit dem Beginn der Aufklärung kontinuierlich von diesem Leitbild der richterlichen Unabhängigkeit entfernt. Die zentrale These im Hinblick auf die politischen, verfassungsrechtlichen und rechtstheoretischen Zusammenhänge richterlicher Unabhängigkeit lautet: Die Dritte Gewalt – die Strafjustiz insbesondere – sieht sich dem Zugriff kriminalpolitischer und administrativer Interessen ausgesetzt. Die Folge dieses Zugriffs ist schwerwiegend: Sie liegt im Verlust an einer effektiven Kontrolle von staatlicher und gesellschaftlicher Macht. Ein Präsident eines Oberlandesgerichts gibt seiner Besorgnis mit den Worten Ausdruck, die Judikative sei bereits „Beute der Exekutive“. (174) Erleichtert wird dieser Zugriff durch einen theoretisch verursachten und politisch erwünschten Mangel an einer normativen, verfassungsrechtlich fundierten Konzeption richterlicher Unabhängigkeit. Der Interessenzugriff vollzieht sich auf vier Ebenen. Zum einen durch die bei der Staatsanwaltschaft vorbereitete und praktizierte Informalisierung des Strafverfahrens. Zum anderen durch die an die Justiz gerichteten politischen Anforderungen, Sicherheit durch Prävention zu stiften. Drittens geht es um die Auslieferung an die Macht der Polizei im Strafverfahren, die den unabhängigen Richter von der notwendigen Bindung an das Strafgesetz löst. Schließlich viertens – läuft der für die Justizförmigkeit des Verfahrenswesentliche Vorbehalt richterlicher Entscheidungen – zum Beispiel bei schwerwiegenden Grundrechtseingriffen wieder Telefonüberwachung – weitgehend leer.

Die Justiz im sicherheitspolitischen Wettbewerb

Polizei und Staatsanwaltschaft beherrschen das Strafverfahren. Maxime dieser Beherrschung ist die Beschleunigung des Verfahrens. Es geht darum, die anfallende Fallast schnell und effektiv zu bewältigen. Der Erledigungsdruck wird auf die Justiz übertragen.

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Inmitten des sicherheitspolitischen Wettbewerbs führt dies zu einer Abhängigkeit gesetzlicher Richter von Politik und Ministerialbürokratie, die den Gerichten durch realitätsferne Personalschlüssel ein unabhängiges Leben erschweren. Sicherheitspolitischer Wettbewerb bedeutet schlicht eine Auseinandersetzung um ohnehin knapper werdende öffentliche Haushaltsmittel. Sieger im Kampf um Ressourcen sind diejenigen, die der Politik zum Erfolg verhelfen. Dies würdigt die Dritte Gewalt zu einem bürokratischen Erfüllungsgehilfen herab. Darin liegt eine Gefahr für den demokratischen Rechtsstaat insgesamt.

Verpolizeilichung des Strafverfahrens

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Operative Ermittlungsbefugnisse, Vorfeldkontrolle und geheime Ermittlungsmethoden beeinflussen das Hauptverfahren und die Rolle der Strafjustiz nachhaltig. Das Geheimverfahren, das sich abzeichnet, läßt die Ermittlungsbehörden den Beweisstoff so beeinflussen, daß den Gerichten wesentliche Erkenntnismöglichkeiten einfach entzogen werden. Dieser Einfluß ist alltägliche Praxis. Erkenntnisse von V-Leuten können den Gerichten zum Beispiel vorenthalten werden. Die Exekutive kann einen V -Mann, der vor Gericht als Zeuge aussagen soll, schlicht sperren. (176) Das Gericht ist dann auf Erkenntnisse zweiter oder dritter Klasse angewiesen. Ihm bleibt nur noch, denjenigen zu vemehmen, der mit dem V -Mann gesprochen oder von seinen Erkenntnissen gehört hat.

Nicht nur die verdeckte Ermittlung, sondern auch die anderen auf Geheimhaltung gestützten Ermittlungsmethoden bedeuten für die Justiz eine Zumutung für ihre Unabhängigkeit……..Will man den vermeintlichen Nutzen geheimer Ermittlungen retten, verpflichtet dies die Gerichte im sicherheitspolitischen Wettbewerb auch auf eine Rechtsprechung, die dem staatlichen Strafverfolgungsinteressen den Vorrang gegenüber individuellen Freiheitsrechten einräumt.

Inhaltsleerer Richtervorbehalt

Gerade die Kriminalpolitik ist niemals frei von falschen Versprechungen. Eines dieser Versprechen lautet, daß die mit den geheimen Ermittlungsbefugnissen verbundenenschwerwiegenden Eingriffe in bürgerliche Freiheitsrechte durch richterliche Kontrollmöglichkeiten in Form des Richtervorbehalts zu kompensieren seien. Die richterliche Entscheidung soll die rechtsstaatlichen Defizite, die mit dem Geheimverfahren drohen, erträglich machen. Ist bereits dieser normative Anspruch fraglich, liegt ihm doch der Gedanke zugrunde, daß die Justiz in das Konzept des Geheimverfahrens eingebunden wird, so wird dessen Wirkungslosigkeit in der Praxis des Strafverfahrens vollends offenbar. In dieser Praxis versagt der Richtervorbehalt seinen Dienst. (177) Ungehindert nimmt die Anzahl von Telefonüberwachungen zu. Äußerst selten lehnen Richter beantragte Ermittlungsmaßnahmen ab. Zudem unterläuft die weitverbreitete Nutzung der staatsanwaltschaftlichen und polizeilichen Eilkompetenzen den Vorbehalt des Richters. (178) Das praktische Versagen des Richtervorbehalts steht in Zusammenhang mit dem Zeitdruck, den der sicherheitspolitische Wettbewerb den Gerichten auferlegt. Aufgrund dieses Zeitdrucks wird auf der Grundlage von Sachverhalten entschieden, die nur aus der Sicht von Polizei und Staatsanwaltschaft aufbereitet wurden. Im Ergebnis stellt der Richtervorbehalt ein dünnes Feigenblatt des Rechtsstaats für die verfassungsrechtliche Zumutung des Geheimprozesses dar.

Die deutsche Rechtswirklichkeit belegt auf fast dramatische Weise, daß es mit der Unabhängigkeit des gesetzlichen Richters schlecht bestellt ist. Vonnöten wäre ein richterliches Rollenverständnis, das sich selbstbewußt der vergessenen Ideen der Aufklärung erinnert. Dieses Rollenverständnis muß den Richter dazu führen, auf der Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien zu beharren. Die Justiz muß sich ihrer Wächterfunktion gegenüber Politik und Verwaltung bewußt sein. Sie darf sich nicht vor den Karren sicherheitspolitischer Interessen spannen lassen, sondern ist Bollwerk gegen den Zeitgeist der ausschließlichen Sicherheitsorientierung.

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(170) Brüner, Franz-Hermann / Spitzer, Harald, NStZ 2002, 393
 
(171) Montesquieu, Charles de, Vom Geist der Gesetze, S. 221 (Reclam-Ausgabe)
 
(172) Montesquieu, Charles de, aaO.
 
(173) Der BGH hat in seinem „AlQuaida“-Beschlu§ vom 04.04.2002 (BGH NJW 2002, 1589 f.) die Bedeutung des Prinzips des gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG hervorgehoben)
 
(174) Macke, Peter, Die Dritte Gewalt als Beute der Exekutive, DRiZ 1999, 481 ff.
 
(176) Vgl. auch ¤ 96 StPO hinsichtlich der sog. Sperrerklärung von Akten und Schriftstücken
 
(177) Asbrock, Bernd, Zum Mythos des Richtervorbehalts, KritV 1997, 255 ff.
 
(178) Zu hoffen bleibt, daß das Urteil des BVerfG vom 20.02.2001 (BVerfGE 103, 124 ff. – Gefahr im Verzug) zu der angemahnten Restriktion der Eilkompetenzen und damit zu einer Stärkung des Richtervorbehalts führt.

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Prof. Dr. Peter-Alexis Albrecht ist Professor für Kriminologie und Strafrecht an der Johann Wolfgang Goethe – Universität Frankfurt am Main

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