Ipsen. Thesen zum 40. Deutschen Juristentag 1953

Thesen zum Referat von Prof. Dr. Hans Peter Ipsen

Verhandlungen des 40. Deutschen Juristentages 1953 – öffentlichrechtliche Abteilung

THESEN

zum Referat von Professor Dr. Hans Peter Ipsen

I.

1. Selbstverwaltung der Gerichte (= SVG) im Rechtssinne, d. h. Autonomie vom Staat unterschiedener, rechtlich verselbständigter Träger der Rechtsprechung, wird weder gefordert, noch wäre sie diskutabel.

2. Unter SVG ist lediglich eigenständige, weisungsfreie Wahrnehmung von Justizverwaltungsaufgaben durch Gerichte (Gerichtsorgane, Richter) zu verstehen.

II.

Justizverwaltungsaufgaben, die Gerichten nicht bereits heute obliegen und deren künftige Selbstverwaltung vornehmlich in Frage steht, sind:

a) Auswahl für das Richteramt, Richterbeförderung;

b) Dienstaufsicht und disziplinäre Kontrolle über Richter;

c) Veranschlagung, Feststellung, Bewirtschaftung des Haushalts;

d) Verkehr der Gerichte untereinander, mit Ressorts und Öffentlichkeit.

III.

1. Der Verfassungsgrundsatz der richterlichen Unabhängigkeit (Artikel 97 GG) gebietet SVG für die unter II genannten Aufgaben, soweit ihre exekutive Wahrnehmung sie gefährden kann.

2. Da diese Gefährdung normativ, organisatorisch und effektiv nicht ausgeschlossen ist, spricht Artikel 97 GG de lege ferenda insoweit für die SVG.

3. Eine Gefährdung der richterlichen Unabhängigkeit, der ebenfalls durch SVG zu begegnen ist, liegt im übrigen in der parteipolitischen Aufschlüsselung der Richterämter und der Patronage, die sich aus Artikel 21 GG nicht rechtfertigen lassen und die mit den Artikeln 3 und 33 GG im Widerspruch stehen.

IV.

1. Vollständige SVG, insbesondere auch rein-richterliche Kooptation, ist weder mit dem Prinzip der Volkssouveränität (Artikel 20 GG) noch mit dem parlamentarischen Prinzip (Artikel 65, 67 GG) vereinbar, würde also den Rahmen des Grundgesetzes verlassen.

2. Gesetzliche Überführung einzelner, heute der Exekutive zustehender Justizverwaltungsaufgaben in SVG unter entsprechender Kompetenzminderung der Justiz- oder Ressortminister ist aber mit dem parlamentarischen Prinzip durchaus in Einklang zu bringen.

V.

Das Prinzip der Gewaltenteilung im Sinne des Grundgesetzes ist für die Frage der SVG im wesentlichen indifferent.

VI.

Die sogenannte „Selbstverwaltung“ anderer Einrichtungen (Parlamente, Rechnungshöfe, Universitäten) vermittelt keinen im Rahmen des Grundgesetzes realisierbaren „Gleichbehandlungsanspruch“ der Gerichte und kann allenfalls als Beispiel für die mögliche Ausgestaltung gerechtfertigter und empfehlenswerter SVG dienen.

VII.

Für die Auswahl zum Richteramt und für die Richterbeförderung empfiehlt sich: a) Richterwahl und -beförderung kraft Entscheidung durch Richterwahlausschüsse im Bund und in den Ländern, die paritätisch aus Mitgliedern kraft Amtes (Regierungsrnitgliedern) und parlamentarisch gewählten Mitgliedern bestehen;

b) parlamentarische Wahl der Wahlmitglieder der Ausschüsse nach Mehrheitsprinzip aus einer aus Richtern bestehenden Vorschlagsliste, die die Richterschaft (des Bundes, des Landes) in Vorwahlen aufgestellt hat;

c) Vorschlagsrecht für Richterwahl und -beförderung gegenüber den Wahlausschüssen für alle seine Mitglieder und für bestimmte Organe höchster Gerichte; für diese Gerichtsorgane im übrigen Anhörungsrecht, soweit die Vorschläge nicht von ihnen selbst herrühren.

VIII.

1. Es empfiehlt sich, die Dienstaufsicht über Richter primär Gerichtsorganen zu überantworten; sie muß aber aus den unter IV genannten verfassungsrechtlichen Gründen exekutiv, d. h. in einen Ressortminister hierarchisch ausmünden.

2. Für ihre Ausgestaltung empfiehlt sich:

a) Handhabung der Dienstaufsicht durch den Minister, ministerielle Weisung und Evokation in Fragen der Dienstaufsicht sind von der vorgängigen Anhörung bestimmter Gerichtsorgane abhängig zu machen;

b) Dienstaufsicht über Richter ist nach Inhalt und Mitteln tunlichst einzuschränken und auf Wesentlichstes zu beschränken;

c) der Richter muß befugt sein, ihn betreffende, nicht bereits im Wege der Rechtsprechung ergehende Aufsichtsmaßnahmen aus eigener Initiative justiziabel zu machen;

d) die Richteranklage ist im Sinne einer Disziplinarmaßnahme nur nach dem Verschuldensprinzip anzuwenden.

IX.

1. Die Ablösung der Gerichtshaushalte vorn Einzelplan der Ressortminister, auch die Bildung eines Einzelplans für alle Gerichte ist erwägenswert.

2. Jedenfalls empfiehlt sich eine Regelung, wonach

a) Ressort- und Finanzminister verpflichtet sind, abweichende Auffassungen der Gerichte über die Haushaltsvoranschläge im Kabinett und im Parlament darzulegen, und

b) die Gerichte ihre Anforderungen in den parlamentarischen Haushaltsausschüssen selbst mitvertreten.

X.

Es empfiehlt sich, in einem staatlich finanzierten Publikationsorgan aller Gerichte, das in SVG geführt wird, u. a. alle Vorgänge zu behandeln, die eine Bedrohung oder Gefährdung der richterlichen Unabhängigkeit darstellen.

XI.

Bereits erwogene organisatorische Maßnahmen grundsätzlicher Art (Schaffung eines Justizdirektoriums, eines Rechtsministeriums, eines einheitlichen Gerichtsministeriums für alle Gerichtsbarkeiten usw.) verlassen teils den Rahmen des Grundgesetzes und empfehlen sich im übrigen deshalb nicht, weil sie für die Verwirklichung der hier vorgeschlagenen SVG nicht nur entbehrlich, sondern ein Hemmnis sind.

XII.

1. Gesetzgeberische Maßnahmen zur Einführung der hier vorgeschlagenen SVG können ohne Änderung des Grundgesetzes zeitlich, sachlich und auch gesondert für die verschiedenen Gerichtsbarkeiten schrittweise in Bund und Ländern stattfinden, ohne daß es einer gleichzeitigen Gesamtlösung bedürfte.

2. Ein Rahmen-Richtergesetz, zu dessen Erlaß der Bund kompetent ist, würde ein geeigneter Standort für die Verwirklichung wesentlicher, hier gegebener Empfehlungen sein.