Verurteilt zur Demokratie – Justiz und Justizpolitik in Deutschland 1945 – 1949

„…. Am 23. Mai 1949 wurde das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland…. verkündet….Der Rechtsstaat des Grundgesetzes vertraute die Rechtsprechung einem Richterstand an, der 12 lange Jahre bereit gewesen war, seinen Teil zum Machtmißbrauch unter dem Deckmantel der Rechtsanwendung beizutragen. Er vertraute auf die demokratische Gesinnung von Richtern, deren Beiträge zu antidemokratischem Denken und Handeln unstreitig und deren fehlende Neigung zur Selbstkritik so gerichtsnotorisch war wie ihre Unfähigkeit, ihr Denken neu auszurichten und die Demokratie für mehr zu halten als die Staatsform, die aufgrund der Zeitläufe nun einmal da war….Der 23. Mai 1949 markiert den Aufbruch zur Demokratie. Und die Justiz? ….“

Aus:

Senatsrat Dr. Hans Wrobel

in

Verurteilt zur Demokratie – Justiz und Justizpolitik in Deutschland 1945 – 1949

Verlag Decker & Müller, Heidelberg (1989)

 

Seiten 339 ff.:

„Die Hoffnungen von G. A. Zinn: Ein neues Bild vom Richter

Nach der 4. Lesung im Hauptausschuß war der Entwurf des Grundgesetzes reif für die Beratung im Plenum des Parlamentarischen Rates. Georg August Zinn war Berichterstatter für den Abschnitt über die Rechtsprechung. Sein schriftlicher Bericht (10) faßt noch einmal die Grundsätze und der Gang der Beratung in den Ausschüssen zusammen. Zentraler und alles prägender Gedanke ist die Überlegung, „daß die rechtsprechende Gewalt neben Legislative und Exekutive die dritte staatliche Funktion ausübt und im System der Gewaltenteilung den dritten Machtträger darstellt“. Um dies auszudrücken, spricht der Entwurf von „Rechtsprechung“ und „rechtsprechender Gewalt“ und davon, daß diese den Richtern „anvertraut“ sei. Ein weiterer grundsätzlicher Gedanke ist die Sicherung der Einheit und Einheitlichkeit der Rechtspflege; die Errichtung des Obersten Bundesgerichts und oberer Bundesgerichte sollen Garanten der Verwirklichung dieses Gedankens sein (12). Nach breiten Ausführungen über das Bundesverfassungsgericht kommt Zinn auf die Richter zu sprechen. Wie schon die Weimarer Verfassung, soll das Grundgesetz die persönliche und sachliche Unabhängigkeit der Richter garantieren. Doch das Grundgesetz will über die Weimarer Verfassung hinausgehen und „den besonderen Charakter der Richter als der Repräsentanten der dritten staatlichen Gewalt, eben der Rechtsprechung, deutlich herausstellen“ (13). Die nach dem Willen des Grundgesetzes zu erlassenden Richtergesetze des Bundes und der Länder sollen „die Rechtsstellung der Richter regeln und damit, unter Heraushebung aus der übrigen Beamtenschaft, der Besonderheit des Richteramtes gerecht werden“ (14). Zinn läßt keinerlei Zweifel an den Motiven, warum er und seine Kollegen diesem neuen Bild vom Richter als herausgehobenem Repräsentanten der dritten staatlichen Gewalt anhängen: Sie sind der Auffassung, der sich als kleiner Justizbeamter verstehende, so denkende und danach handelnde Richter früherer Zeiten sei mitverantwortlich für die Verwicklung der Justiz in den NS-Staat. So versteckt, wie dies ein alle Meinungen abdeckender Ausschußbericht nun einmal sagen muß – es wird doch deutlich, was Zinn meint: „Die hinter uns liegenden bitteren Erfahrungen erklären sich zu einem nicht unwesentlichen Teil daraus, daß die Richter mit einer schweren, soziologisch und historisch bedingten Hypothek belastet waren, daß, wie Professor Bader in seiner Schrift über die deutschen Juristen mit Recht hervorgehoben hat, der Richter auch nach der Trennung der Gewalten ein „kleiner Justizbeamter“ geblieben war“ (15). Damit soll Schluß sein; aus dem Beamten soll ein Richter werden. Damit zieht Zinns Bericht nicht nur Konsequenzen aus der jüngsten Vergangenheit. Er will weitergreifend Vorschläge aufnehmen, die schon seit langem bekannt sind und auf eine Hebung des Niveaus und der Stellung der Richter hinauslaufen: „Schon seit langem (Adickes) (16) haben sich gewichtige Stimmen gegen diese Verbeamtung des Richters gewandt; man wollte ihn statt dessen wieder als ersten Vertreter eines Ur-Berufsstandes, einer menschlichen Ur-Funktion angesehen wissen und einen neuen Richtertyp schaffen, unabhängig von allen anderen Laufbahnen des öffentlichen Dienstes“ (17). Die Emporhebung der Richter ist aber nur die eine Seite der Medaille. Zinn kommt auf die Richteranklage und die Richterwahl zu sprechen: „Auf der anderen Seite muß dagegen Vorsorge getroffen werden, daß die Richter die ihnen anvertraute Macht und das besondere Vertrauen, das ihnen vom Volke durch die Berufung in das Richteramt entgegengebracht wird, gegenüber dem Volk selbst mißbrauchen. Diesem Zweck dient die in Artikel 98 Absatz 2 vorgesehene Richteranklage. Die Richteranklage … ist im Grunde nur eine Sicherung des Volkes dafür, daß der Richter die ungeheure und nach der fachlichen Seite hin nicht kontrollierbare Machtbefugnis im Sinne des Volkes, von dem er sie erhalten hat, und in dessen Namen er sie ausübt, verwaltet. Die demokratische Grundforderung, daß alle Staatsgewalt vom Volk ausgeht, kommt weiterhin zum Ausdruck in der verfassungsmäßigen Einrichtung von Richterwahlausschüssen…“ (18)

Die Plenarberatungen änderten an den Entwürfen über die Unabhängigkeit der Richter, der Richterwahl und der Richteranklage nichts mehr. Am 8. Mai 1949 – auf den Tag genau vier Jahre nach dem Ausbruch des großen ius stitium in Deutschland – verabschiedete der Parlamentarische Rat das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland mit 53 Stimmen aus der CDU, der SPD und der FDP; die sechs Vertreter der CSU und die Abgeordneten der DP, des Zentrums und der KPD stimmten dagegen. Am 12.Mai 1949 – an diesem Tag endete die Blockade Berlins – unterschrieben die drei westlichen Militärgouverneure das Schreiben (19) mit dem sie das Grundgesetz genehmigten – darin formulierten sie auch die bis heute geltenden Vorbehalte wegen der Einbeziehung Berlins in den Bund. Danach wurde der Entwurf des Grundgesetzes den westdeutschen Landesparlamenten vorgelegt; alle bis auf den bayerischen Landtag stimmten ihm zu. Am 23. Mai 1949 wurde das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland in Bonn in dem Saal verkündet, in dem heute der Bundesrat seine Tagungsstätte hat. Am Tag darauf trat es in Kraft. Damit war die Bundesrepublik Deutschland entstanden. Und diese Bundesrepublik verfügte in der Theorie über eine Rechtpflege, wie es sie zuvor noch niemals in Deutschland gegeben hatte.

Für die Juristen in der Justiz mußte das alles wie das Wunder von Bonn erscheinen. Zwar konnten sie nicht ganz mit den Resultaten zufrieden sein: Die Richteranklage hatten ihre Lobbyisten nicht ganz kippen können und die Richterwahl auch nicht. Aber gemessen an der Kritik, die den Juristen seit 1945 so überreichlich zuteil geworden war, konnten sie im Grunde einen Sieg melden. Der Rechtsstaat des Grundgesetzes vertraute die Rechtsprechung einem Richterstand an, der 12 lange Jahre bereit gewesen war, seinen Teil zum Machtmißbrauch unter dem Deckmantel der Rechtsanwendung beizutragen. Er vertraute auf die demokratische Gesinnung von Richtern, deren Beiträge zu antidemokratischem Denken und Handeln unstreitig und deren fehlende Neigung zur Selbstkritik so gerichtsnotorisch war wie ihre Unfähigkeit, ihr Denken neu auszurichten und die Demokratie für mehr zu halten als die Staatsform, die aufgrund der Zeitläufe nun einmal da war. Die Richter waren also die großen Gewinner der Verfassungsberatungen. Aber waren sie auch ein Gewinn für die Verfassung? Das hätte bedeutet, daß sie das fundamental Neue der von G. A. Zinn umschriebenen Konzeption erkannt und nachvollzogen hätten. Über die Gewährung und Sicherung der richterlichen Unabhängigkeit war nicht lange mit ihnen zu reden: Damit waren die Richter vollkommen einverstanden. Aber im übrigen? Wie stand es um die Übernahme der Idee der Verknüpfung von richterlicher Unabhängigkeit mit der richterlichen Verantwortung vor der Verfassung – diese Idee war allen Relativierungen ihrer institutionellen Sicherungen zum Trotz vom neuen Grundgesetz keineswegs verworfen worden. Es stand mehr als schlecht. Es regte sich kein neues richterliches Denken, und die Reflexion über die Konsequenzen aus der Emporhebung der Rechtsprechung auf die Ebene der beiden anderen Staatsgewalten blieb aus unter der Richterschaft. Die alten richterlichen Ideologien aus der Welt der „kleinen Justizbeamten“ regierten längst wieder die rechtsgelehrten Köpfe. Entpolitisierung der Rechtspflege war das alles beherrschende Motto. Kurzum: Die deutschen Richter machten sich daran, der ihnen zugedachten, neuen, hervorgehobenen Aufgabe mit dem geistigen Rüstzeug der Weimarer Jahre gerecht zu werden.

Das Vermächtnis von Gustav Radbruch: Man kann Recht nur sprechen aus dem Geist eines bestimmten Staates heraus

Davor sind sie gewarnt worden. Gustav Radbruch hat in einer seiner letzten Veröffentlichungen kurz vor seinem Tod versucht, seine Juristenkollegen zum Nachdenken über ihr Verhältnis zur Politik zu veranlassen. Er warf die Frage auf, ob die früher vom Reichsgericht kultivierte „Zurückhaltung vor der Politik“ richtig gewesen, ob die „Selbstbeschränkung des Rechts gegenüber der Politik“ und „die Ausscheidung der Politik aus der Rechtspflege überhaupt möglich“ sei. Daß er hier heiligste Güter der Richterschaft antastete, wußte er sehr wohl: „Ich weiß, daß es eine gefährliche und anstößige Feststellung ist, aber es ist darum nicht minder wahr, daß Politik und Rechtspflege voneinander sauber zu trennen unmöglich ist, daß sie vielmehr ohne scharfe Grenzen ineinander übergehen.“ Er verwies auf die von der Freirechtlichen Bewegung vermittelte Einsicht, daß sowohl Rechtsanwendung als auch Rechtsfortbildung den Richter „letzten Endes auf allgemeinpolitische Wertungen“ verweise. Weiter mühte sich Radbruch um die von den Richtern nie verstandene Unterscheidung von Politik und Parteipolitik. Radbruch: „Gewiß: Parteipolitik auf dem Richterstuhl wird jedermann verdammen, aber diese Ablehnung der Parteipolitik bedeutet nicht etwa die Ablehnung politischer Wertungen, nur weil diese etwa auch von einer bestimmten Partei vertreten werden, vielmehr nur die Ablehnung der Willfährigkeit gegenüber der politischen Macht der Parteiorganisationen.“ Dann sprach er von dem „unvermeidlichen politischen Einschlag aller Rechtsprechung“ und zog die Konsequenzen daraus für die Arbeit der höchsten Gerichte, „die über die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen zu entscheiden haben: deren Mitglieder dürften nicht nur Juristen, sondern müßten zugleich Staatsmänner sein, die wie die Richter des Supreme Court der Vereinigten Staaten in der Lage sein sollten, „ein … Beispiel für die staatsmännische Fortbildung einer Verfassung in richterlichen Formen“ zu geben. „Von Formaljuristen ohne staatsmännischen Blick gehandhabt, muß dagegen die Prüfung von Gesetzen auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu einer Erstarrung des Verfassungsrechts führen, die sich zunächst gegen die Forderungen des fortschreitenden Lebens wendet, um schließlich gerade dadurch die Autorität der Verfassung selbst zu zerstören“ (20). Radbruch hat freilich nicht nur die höchsten Richter, sondern auch die zur Rechtsanwendung im Alltag berufenen Rechtsdiener im Auge gehabt. „Man kann nicht“, sagt er mit einem Wort Heinrich von Treitschkes, „Recht sprechen anders als aus dem Geiste eines bestimmten Staates heraus“. (21)

Die Antwort der Juristen: Die bedenklichen Rechtsfolgen des Grundgesetzes auf ein erträgliches Maß reduzieren . . .

Anders als Stellungnahmen Gustav Radbruchs sonst haben diese Worte die Angesprochenen nicht bewegt. Der zum Senatspräsidenten in Koblenz aufgerückte Hans Rotberg, der Protagonist der Lehren von der Entpolitisierung der Rechtspflege, hat dies in einem – schon vor Radbruchs Artikel publizierten – Aufsatz exemplarisch dargetan und verkündet, daß die jetzt zu erlassenden Gesetze über das Bundesverfassungsgericht und die Rechtsstellung der Richter in der Bundesrepublik Deutschland ungeachtet der Vorgaben der Verfassung „parteitaktischem Mißbrauch“ (22) zu wehren und die „politische Neutralisierung der Rechtspflege“ (23) zu fördern hätten. Ganz ungeniert erklärte er im Blick auf die in Artikel 98 GG geregelte Richteranklage, man werde zu erwägen haben, „wie sich die bedenklichen Rechtsfolgen des Artikels 98 auf ein erträgliches Maß zurückführen lassen“. Das gleiche Streben leitete seinen Vorschlag, wie die jetzt zu etablierenden Richterwahlausschüsse zusammenzusetzen seien: er will „vorzugsweise Richter, ferner Vertreter der Anwaltschaft, auch der Staatsanwaltschaft, der juristischen Fakultäten, der Wirtschaft und sonstiger an der Rechtspflege sachlich interessierter Kreise“ vertreten sehen. Wer soll aber gerade nicht die Richter wählen dürfen? Richtig: die Parteipolitiker. Rotberg hat sein Ziel, die Volksvertretung fernzuhalten aus der reinen Rechtssphäre, fest im Blick, wenn er schreibt: „Mit Recht empfiehlt Ruscheweyh, daß die sonstigen Mitglieder des Ausschusses nicht aus der Mitte des Bundestages oder einer anderen politischen Körperschaft entnommen, sondern im Hinblick auf ihre persönlichen Qualitäten gewählt werden“ (24). Damit – und nicht mit Radbruchs Ermahnungen – war die herrschende Meinung unter den Leuten von der Justiz über ihr Verhältnis zur Politik zutreffend umrissen.

In diesem Sinne ging die Justiz an ihr neues Werk. Erster Bundesjustizminister wird Thomas Dehler, Apologet der Justiz von 1945, Gegner der Richterwahl und der Richteranklage. Walter Strauß wird sein Staatssekretär. Walter Roemer und Gerhard Erdsiek werden bald Ministerialdirektoren im Bundesjustizministerium. Hans Rotberg und Werner Sarstedt werden einflußreiche Richter am Bundesgerichtshof. Ein merkwürdiger Widerspruch tut sich auf: Von Verfassungs wegen bietet sich die Möglichkeit zu einer neuen Justiz. Von Amts wegen obwaltet die Liebe zum Alten und zu einem Denken, das die Untergrabung der ersten deutschen Republik durch unabhängige Richter gefördert und die Hinwendung der deutschen Justiz zu dem nationalsozialistischen Unrechtstaat nicht verhindert hat.

Der 23. Mai 1949 markiert den Aufbruch zur Demokratie. Und die Justiz?

Die Antwort . ..“

 

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