Das Problem der deutschen Staatsorganisation

 

Die deutsche Justiz ist nicht unabhängig. Ihre Unabhängigkeit wird behauptet.

 

Inhalt:

1. Staatsorganisation in deutscher Allgemeinbildung
2.
Staatsorganisation in der deutschen Realität

3. Die Haltung der traditionellen deutschen Staatsrechtswissenschaft zur Unabhängigkeit der Rechtsprechung

1.  Staatsorganisation in deutscher Allgemeinbildung.

Beispiel: Eine Darstellung der deutschen Staatsorganisation (Gewaltenteilung) in der Schulbildung des Freistaats Bayern.

GewteilBay

Bildliches Zitat aus: Mensch und Politik, Sozialkunde Bayern, Klasse 11, Dr. Florian Hartleb u. Christian Raps, Verlag Schroedel 2009

Das Schaubild beschränkt sich darauf, Staatsorgane abzubilden und eine staatliche Kompetenzaufteilung wiederzugeben. In der Überschrift werden drei Staatsgewalten genannt: Legislative, Exekutive und Judikative. So entsteht bei dem arglosen Betrachter spontan der optische Eindruck von Ausgewogenheit und Machtbalance.

Ob oder inwieweit die dargestellte Kompetenzaufteilung dem Sinn und Zweck des Gewaltenteilungsprinzips tatsächlich genügt, ist nicht erkennbar. Das rechtliche und tatsächliche Ungleichgewicht der Machtverteilung zwischen den Staatsorganen bleibt dem Betrachter verborgen.

Die drei Staatsgewalten schweben frei über einem Organisationsgeflecht. Konkrete Einzelzuordnungen zu Legislative, Exekutive und Judikative sind nicht erkennbar.

Das Schaubild klärt nicht auf. Seine Kopfzeile suggeriert den Betrachtern eine reale staatsorganisatorische Existenz von drei verschiedenen, einander gleichgestellten Staatsgewalten.

In Deutschland stehen aber nur Legislative und Exekutive staatsorganisatorisch nebeneinander. Die Legislative (Bundestag, Landtage) ist selbstverwaltet und nicht in die Exekutive integriert. Kein deutsches Parlament gehört zum Geschäftsbereich einer Regierung. Bundestag und Bundestagsabgeordnete, Landtage und Landtagsabgeordnete werden nicht von Parlamentsministern verwaltet.

Die deutsche Judikative hingegen ist in die Geschäftsbereiche von Bundes- und Landesregierungen integriert. Gerichte und Richter, Staatsanwaltschaften und Staatsanwälte werden von Regierungsmitgliedern (i.d.R. von Justizministern) verwaltet. Die Justizminister arbeiten in Bund und Ländern unter dem Dach einer Regierung. Die dritte Gewalt Gewalt ist in Deutschland der ersten Gewalt staatsorganisatorisch nachgeordnet.

Die bayerische Grafik verwirrt auch aus anderem Grunde. Die rechtsprechende Gewalt ist nicht nur dem Bundesverfassungsgericht (16 Richter) anvertraut. Das Grundgesetz hat die rechtsprechende Gewalt „den Richtern“ anvertraut und führt in Art. 92 GG aus: „sie wird durch das Bundesverfassungsgericht, durch die in diesem Grundgesetze vorgesehenen Bundesgerichte und durch die Gerichte der Länder ausgeübt.“

Die im Grundgesetz vorgesehenen Bundesgerichte, die Gerichte der Länder und mehr als 20.000 Richter in Deutschland lässt die Grafik unerwähnt. Wo sind die Strafrichter und Zivilrichter, an die Montesquieu dachte, wo die Familienrichter, die Arbeitsrichter, die Sozialrichter, die Verwaltungsrichter, die Finanzrichter? Als die Organe einer der in Art. 20 GG genannten drei Staatsgewalten sind sie in der obigen Darstellung für den Betrachter nicht fassbar: Es gibt sie nicht.

2. Staatsorganisation in der deutschen Realität.

Deutschland kennt nur zwei organisatorisch voneinander unabhängige Träger der Staatsgewalt, die Legislative und die Exekutive (anders beispielsweise Italien). Die deutsche Judikative ist ein staatsorganisatorischer Bestandteil der Exekutive (Ausnahme: das selbstverwaltete Bundesverfassungsgericht). Die für die Justiz zuständigen Minister arbeiten in Bund und Ländern ‘unter dem Dach einer Regierung, ihren Mehrheitsentscheidungen ausgesetzt und zur Regierungsloyalität verpflichtet’.

Die deutsche Staatsorganisation verhindert nicht schon aus sich heraus die Bündelung von Macht in wenigen Händen. Die Gewaltenteilung in Deutschland erschöpft sich in wesentlichen Punkten in einem Verfassungsgebot. Ob und in welchem Maße dieses Verfassungsgebot befolgt wird, hängt von dem guten Willen und der Rechtstreue der im Dienst der Öffentlichkeit handelnden Personen ab (in schlechten Händen hat die deutsche Justiz versagt). Die deutsche Gewaltenteilung steht de jure (Art 20 Absatz 2 Satz 2 Grundgesetz) auf drei Beinen. De facto verharrt sie auf zwei Beinen. Die deutsche Justiz ist nicht unabhängig.

Man hat sich daran gewöhnt. Gewohntes fällt nicht auf.


3. Die Haltung der traditionellen deutschen Staatsrechtswissenschaft zur Unabhängigkeit der Rechtsprechung.

a. Die herrschende Meinung in der deutschen Staatsrechtswissenschaft zu der Unabhängigkeit der Dritten Gewalt von der Exekutive basiert auf einer langen Tradition. Sie geht zurück auf die Zeit, in der die in unserer Verfassung angelegte Dreiteilung der Staatsgewalt zerredet wurde von Menschen, denen das Grundgesetz neu, ungewohnt, von fremden Siegermächten den eigenen akademischen Lehren übergestülpt erschien, und die es aus den unterschiedlichsten Motiven vorzogen, an der gewohnten Staatsorganisation festzuhalten. Der Justizapparat blieb im Jahre 1949 (Inkrafttreten des Grundgesetzes) weiterhin der Regierung unterstellt, bis heute.

Um den vom Grundgesetz vorgefundenen tatsächlichen und rechtlichen Zustand der Justiz zu bewahren, interpretierte man den Wortlaut des Art. 92 Grundgesetz um.

So gipfelte beispielsweise das Referat des Gutachters auf dem 40. Deutschen Juristentag 1953 Pof. Dr. Helmut K.J. Ridder in den Worten: „Es gibt keine »rechtsprechende Gewalt« in der Demokratie des Grundgesetzes“. Die Tatsache, daß das Grundgesetz die „rechtsprechende Gewalt“ wörtlich nennt, sie „den Richtern anvertraut“ und ihre Ausübung den Gerichten überantwortet (Art. 92), schob er beiseite: Hierbei handle es sich um eine „unglückliche Terminologie des Grundgesetzes“, um „nebelspendenden Wortzauber“.

Die Bestrebungen der Mütter und Väter des Grundgesetzes traten in den Hintergrund. Mahner wurden nicht gehört.

Auf diese und ähnliche Weise1 wurde die Botschaft des Art. 92, mit dem der Abschnitt des Grundgesetzes „Die Rechtsprechung“ beginnt, zur dürren Garantie eines Rechtsprechungsmonopols für die Richter heruntergeredet und wurde ein eher nebensächlicher Teilaspekt zum alleinigen Norminhalt überhöht: Nur Richter dürfen Recht sprechen, Lokomotivführer, Lehrer und Polizisten hingegen nicht.

Auf das Maß einer Banalität reduziert und mit diesem Inhalt als „herrschende Meinung“ von einem Zitat in das nächste weitergereicht, konnte Art. 92 Grundgesetz den Fortbestand der vorkonstitutionellen Ordnung nicht mehr gefährden.

Nach bis heute herrschender Meinung in der deutschen Staatsrechtswissenschaft steht in Art. 92 Grundgesetz nicht geschrieben, was dort zu lesen ist.2

b. Die rechtsprechende Gewalt in Deutschland ist organisatorisch unselbständig. Sie amtiert unter dem Dach einer Regierung. Dies führt zu Gefahren für die innere Unabhängigkeit der Richter. Die deutschen Regierungen können Richter für ihr konkretes Verhalten belohnen oder die Belohnung versagen. Damit haben sie Macht über die Richter. „Wer befördert, befiehlt“ (Theodor Eschenburg).

Das Entstehen einer psychischen und sozialen Abhängigkeit von Richtern wird in anderen Ländern gesehen und vermieden durch eine Staatsorganisation, die Beeinflussungen der Richter durch die Regierung von vornherein unmöglich macht.

In Deutschland sieht man das anders. Hier wird an den Juristischen Fakultäten, in der Politischen Bildung, in den Medien offentlichkeitswirksam vermutet, dass die richterliche Unabhängigkeit durch die Integration der Justiz in die Exekutive nicht gefährdet sei. Die psychosoziale Wirklichkeit der einzelnen Richter wird nur unzureichend zur Kenntnis genommen.

Aus dem Munde eines Juristen ist eine solche Vermutung nichts anderes als die beschwichtigende Unterstellung eines tatsächlichen Sachverhalts, zu dessen Beurteilung er nicht ausgebildet ist. Die rechtswissenschaftliche Ausbildung qualifiziert nicht zu naturwissenschaftlichen oder gesellschaftswissenschaftlichen Aussagen von hinreichender Relevanz.

Das konkrete Ausmaß der Gefährdung der inneren Unabhängigkeit von Richtern durch die aus dem 19. Jahrhundert überkommene deutsche Staatsorganisation ist keine Rechtsfrage, sondern eine Tatsachenfrage. Hier geht es um reale Menschen in einem Abhängigkeitsverhältnis und um menschliche Verhaltensmuster, es geht um psychologische, biologische und soziologische Fragestellungen: Verwandeln sich Menschen durch die Aushändigung eines Blatts Papier (Richterernennungsurkunde) in Wesen, auf welche die allgemeinen Gesetze der menschlichen Psychologie nicht mehr zutreffen?

Das Gewaltenteilungsprinzip Montesquieus findet sein Motiv außerhalb des Rechts – im biologischen und sozialen Bereich, in der menschlichen Natur selbst. Der anthropolohische Befund Montesquieus über die Natur des Menschen im Umgang mit Macht – das zentrale Motiv des Gewaltenteilungsprinzips – wird  prima facie durch die Menschheitsgeschichte bestätigt.

Eine fachwissenschaftlich (sozialpsychologisch, soziologisch) qualifizierte Widerlegung dieses Befundes Montesquieus ist nicht bekannt. Die qualifizierte Erforschung des realen Ausmaßes der Gefahren für die richterliche Unabhängigkeit durch die Personalhoheit von Regierungen über die Richter findet nicht statt. Psychologen und Soziologen überlassen dieses Forschungsfeld den Juristen. Dort bleibt es unbearbeitet.

So gehen in Deutschland Politische Bildung und Medien – fehlgeleitet durch die Autorität und das Schweigen der Rechtswissenschaft – in großer Mehrheit davon aus, dass die Dienstaufsicht und die Beförderungshoheit über die Richter durch die Regierung, dass die vom Grundgesetz bereits vorgefundene und seitdem unverändert gebliebene Integration der deutschen Judikative in die Exekutive keine Probleme aufwirft.

Das Ignorieren von Wirklichkeit durch die Rechtswissenschaft hat Methode: Viele deutsche Staatsrechtslehrer verstehen ‘das positive Recht als einen autonomen Kosmos von geltenden Normen, der von einer als nicht-empirische Disziplin aufgefassten reinen Jurisprudenz kognitiv erfasst werden soll. Dabei unterwerfen sie sich ‘einem Offenbarungsmodell der Erkenntnis, dem zufolge es darauf ankommt, die Wahrheit aus den Verlautbarungen von Instanzen zu entnehmen, die mit unbezweifelbarer Autorität für die Lösung der betreffenden Probleme ausgestattet sind’.3 Die Autoritäten suchen und finden sie in ihren eigenen Reihen.

Traditionelle deutsche Staatsrechtswissenschaftler arbeiten empiriefrei. Sie nehmen keine gutachterliche Hilfe der Human- und Gesellschaftswissenschaften in Anspruch. Statt dessen rechtfertigen sie ihre Schlussfolgerungen durch wechselseitige Bezugnahmen auf ihre theoretischen Schriften. Die unter ihnen „herrschende Meinung“ dient als Wahrheitssurrogat.

Die traditionelle Staatsrechtswissenschaft in Deutschland vermittelt durch autoritatives Schweigen, dass in dem Verhältnis zwischen Richtern und den sie verwaltenden Regierungen allgemeingültige Erkenntnisse über die menschliche Natur keine Geltung haben – Mit Folgen.

Udo Hochschild

(© Udo Hochschild – gewaltenteilung.de) 

1 In ähnlicher Weise versuchten namhafte deutsche Staatsrechtswissenschaftler in den Anfangszeiten der Bundesrepublik Deutschland, die rechtliche Gleichstellung von Mann und Frau zu verhindern.
2 Ebenso wird seit dem 1. Oktober 1879 (vom Kaiserreich und der Weimarer Republik über die Diktatur bis zur Bundesrepblik Deutschland) bei Geltung unterschiedlicher Verfassungen mit stets gleichem Ergebnis der Wortlaut des § 1 Gerichtsverfassungsgesetz in sein Gegenteil verkehrt: Die Gerichte sind nicht unabhängig, sondern unterstehen einem Minister und werden als dem Ministerium nachgeordneter Bereich bezeichnet und behandelt.
3 So der Philosoph und Soziologe Hans Albert, der hierin eine der wesentlichen Gemeinsamkeiten zwischen Jurisprudenz und Theologie erblickt (Die Jurisprudenz im Lichte des Kritizismus in: Hans Albert Lesebuch, Abschnitt Erkenntnis und Recht (S. 243 u. 250), UTB, Tübingen, 2001).

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Das Taschenbuch

 

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