Der Relativismus in der Rechtsphilosophie

Aus dem Text:

„…. Ich kann es mir ersparen, im einzelnen darzulegen, daß es einen Rechtsstaat nicht geben kann ohne Gewaltenteilung ….“

 

Gustav Radbruch

Auszug aus:Rechtsphilosophie III (1934). Bearbeitet von Winfried Hassemer. C.F. Müller Juristischer Verlag Heidelberg 1990

In einer Zeit wie der unseren gehört Mut dazu, sich zum Relativismus zu bekennen. Wir sind in eine Zeit angeblich absoluter Werte eingetreten. Von der Höhe dieser Werte herab bezeugt man dem Relativismus ganz allgemein Geringschätzung, ja Verachtung. Das Bild des lächelnden Skeptikers hat aufgehört, das Ideal des Weisen darzustellen. Man sieht im Relativismus einen Mangel an Überzeugung, einen Mangel an Charakter. Um solche Mißverständnisse zu zerstreuen, soll hier gezeigt werden, daß der Relativismus keineswegs einen Mangel an Überzeugung bedeutet, vielmehr selbst eine starke, ja aggressive Überzeugung darstellt.

Die Lehre des Relativismus hat sich entwickelt als Gegenspiel zur Doktrin des Naturrechts. Das Naturrecht beruht auf einem bestimmten methodischen Prinzip, nämlich auf der Auffassung, daß es eine eindeutige, erkennbare und beweisbare Idee des gerechten Rechts gebe. Die Widerlegung dieser These ist aus zwei Wurzeln hervorgegangen, deren eine der Erfahrungswissenschaft, deren andere der Erkenntnistheorie angehört. Rechtsgeschichte und Rechtsvergleichung haben eine unbegrenzte Mannigfaltigkeit der Rechtswirklichkeit aufgedeckt, in der keine Tendenz eines einheitlichen Ideals spürbar ist. Andererseits hat Kants Kritizismus uns bewiesen, daß zwar die Formen der Kultur und des Rechts absolut und allgemeingültig seien, ihr Inhalt aber von empirischen Gegebenheiten abhänge und deshalb völlig relativ sei.

Der rechtsphilosophische Relativismus geht also von der These aus, daß jede inhaltliche Auffassung des gerechten Rechts nur unter der Voraussetzung einer bestimmten Lage der Gesellschaft und eines bestimmten Systems der Werte gültig sei. Die sozialen Umstände sind unendlich wandelbar, die Zahl der Wertsysteme ist dagegen beschränkt. Es ist deshalb möglich, ein vollständiges System der Wertungen aufzustellen, die in einer bestimmten sozialen Lage möglich sind. Aber es ist unmöglich, zwischen diesen Möglichkeiten auf eine wissenschaftliche, beweisbare und unwiderlegliche Weise zu entscheiden, die Wahl zwischen ihnen ist nur durch eine Entscheidung möglich, die aus der Tiefe des individuellen Gewissens geschöpft wird. Das bedeutet, daß der Relativismus einen Verzicht seitens der theoretischen Vernunft darstellt – aber einen um so stärkeren Appell an die praktische Vernunft, eine Grenze des wissenschaftlichen Denkens – , aber nicht eine Feigheit oder Lässigkeit des moralischen Willens. Der Relativismus enthält also zugleich den Aufruf zum Kampf gegen die Überzeugung des Gegners, deren Unbeweisbarkeit er nachweist, und die Mahnung zur Achtung vor der Überzeugung des Gegners, deren Unwiderlegbarkeit er zeigt: Entschlossenheit zum Kampf auf der einen Seite, Duldsamkeit und Gerechtigkeit des Urteils auf der anderen – das ist die Moral des Relativismus.

Dies also ist die relativistische Methode, die in der deutschen Rechtsphilosophie vertreten wird von Max Weber und von Georg Jellinek, von Hans Kelsen und von Hermann Kantorowicz.

Aber der Relativismus ist mehr als eine Methode der Rechtsphilosophie, er bildet gleichzeitig ein Bauglied im Rahmen des Systems der Rechtsphilosophie. Der Relativismus ist nicht ein bloßer und reiner Agnostizismus, er ist mehr: eine ergiebige Quelle sachlicher Einsicht. Vor allem ist der Relativismus die einzig mögliche Grundlage für die verpflichtende Kraft des positiven Rechts. Gäbe es ein Naturrecht, eine eindeutige, erkennbare und beweisbare juristische Wahrheit, so wäre auf keine Weise einzusehen, warum positives Recht, das mit dieser absoluten Wahrheit in Widerspruch stünde, verpflichtende Kraft haben sollte – es müßte verschwinden wie der entlarvte Irrtum vor der entschleierten Wahrheit. Die verbindliche Kraft positiven Rechts kann nur auf eben die Tatsache gegründet werden, daß das richtige Recht weder erkennbar noch beweisbar ist. Weil ein Urteil über die Wahrheit oder Falschheit der verschiedenen Rechtsüberzeugungen unmöglich ist, weil es auf der anderen Seite eines einheitlichen Rechts für alle Rechtsgenossen bedarf, ist der Gesetzgeber vor die Notwendigkeit gestellt, den gordischen Knoten, welchen die Wissenschaft nicht auflösen kann, mit einem Schwerthieb zu zerhauen. Weil es unmöglich ist, festzustellen, was gerecht ist, muß man festsetzen, was rechtens sein soll. An Stelle eines Aktes der Wahrheit, welcher unmöglich ist, wird ein Akt der Autorität notwendig. Der Relativismus mündet aus in den Positivismus.

Aber zur gleichen Zeit liefert der Relativismus einen kritischen Maßstab, um das positive Recht daran zu messen, und Forderungen, denen das positive Recht sich anzupassen verpflichtet ist. Wir sagten es schon: die Entscheidung durch den Gesetzgeber ist nicht ein Akt der Wahrheit, sondern ein Akt des Willens und der Autorität. Er kann einer bestimmten Meinung die verbindliche Kraft zuerteilen, aber niemals die Kraft zu überzeugen, er kann zwischen den streitenden Parteien den Machtkampf beenden, nicht aber den Meinungskampf. Die Entscheidung des Meinungskampfes würde die Zuständigkeit des Gesetzgebers überschreiten. Das Recht der Gesetzgebung ist ihm unter der Bedingung anvertraut, den ideellen Kampf zwischen den verschiedenen Rechtsüberzeugungen unberührt zu lassen. Der Relativismus, indem er dem Staate das Recht der Gesetzgebung gibt, begrenzt es zugleich, indem er es verpflichtet, bestimmte Freiheiten der Rechtsunterworfenen zu achten: die Freiheit des Glaubensbekenntnisses, die Freiheit der Presse. Der Relativismus mündet aus in den Liberalismus.

Gegenüber dem Einzelnen, der sich von der seitens des Gesetzgebers angenommenen und sanktionierten Meinung nicht überzeugen läßt, bedeutet das positive Recht nur brutale Gewalt, nicht sittliche Autorität. Genauer: es hat nur jenes Minimum an Autorität, das sich aus seiner Funktion herleitet, Ordnung und Sicherheit herzustellen, und diese kann aufgewogen werden durch das Gewicht einer etwaigen Ungerechtigkeit, welche nach der Überzeugung jenes Einzelnen im positiven Recht enthalten ist. Aus dieser Tatsache ergeben sich wichtige Konsequenzen auf das Strafrecht hin. Sowohl die Vergeltung wie die Erziehung durch die Strafe ist gebunden an die Voraussetzung einer höheren moralischen Würde des strafenden Staates gegenüber dem geringeren moralischen Wert des straffälligen Schuldigen. Der Verbrecher aus einer Überzeugung, die der vom Staate angenommenen Überzeugung gegnerisch ist, also der politische und soziale Verbrecher, ist nicht minderwertig, sondern andersdenkend. Deshalb kommen angesichts des Überzeugungstäters die Strafzwecke der Vergeltung und Erziehung in Fortfall, auch die Aufgabe der Abschreckung versagt – denn das Martyrium hat für den Überzeugungstäter oft beinahe etwas Verlockendes. Es bleibt dem Staate nur übrig, ihn unschädlich zu machen durch eine Internierung, die mehr den Charakter einer Kampfmaßnahme als einer Kriminalstrafe hat, eine Art Kriegsgefangenschaft im inneren Kriege. Der Relativismus verlangt ein Sonderstrafrecht für Überzeugungstäter.

Das positive Recht ist ein Autoritätsakt, der im Dienste der sozialen Ordnung und der Rechtssicherheit den Kampf der Überzeugungen zu beenden bestimmt ist. Aber das positive Recht kann diese seine Sicherheitsaufgabe nur unter der Voraussetzung erfüllen, daß es nicht allein die Rechtsunterworfenen verpflichte, sondern auch den Gesetzgeber selbst. Es wäre um die Rechtssicherheit geschehen, wenn der Gesetzgeber in der Lage wäre, nach Willkür Ausnahmen vom Gesetz zu machen. Die Gesetzgebung ist dem Gesetzgeber anvertraut nur unter der Bedingung, daß er sich selbst der Herrschaft des Gesetzes unterwerfe. Ein Staat, der sich seinem eigenen Gesetz unterworfen weiß, heißt nach der deutschen Rechtssprache Rechtsstaat. Der Relativismus fordert den Rechtsstaat.

Ich kann es mir ersparen, im einzelnen darzulegen, daß es einen Rechtsstaat nicht geben kann ohne Gewaltenteilung. Wenn Verwaltungsorgane gesetzgeberische Rechte hätten, könnten sie sich jederzeit von dem Gesetz, das sie binden soll, befreien. Indem der Relativismus den Rechtsstaat fordert, fordert er also zugleich die Gewaltenteilung.

Der Relativismus behauptet, daß die inhaltliche Wahrheit der verschiedenen politischen und sozialen Überzeugungen nicht wissenschaftlich erkennbar sei und daß man deshalb alle diese Überzeugungen als gleichwertig betrachten müsse. Aber die Überzeugungen als gleichwertig betrachten heißt, die Menschen als gleich behandeln. Die Ungleichheit der Menschen nach Stand, Klasse, Rasse kann nicht anders begründet werden als durch ihre intellektuelle und moralische Unempfänglichkeit für eine vermeintlich eindeutige politische und soziale Wahrheit. Aber in der politischen Wirklichkeit kann die Gleichheit der Menschen nur annähernd durchgeführt werden, die unbeschränkte Verwirklichung im Sinne der Einstimmigkeit ist unmöglich. Die politische Gleichheit mündet deshalb in das System der Mehrheit aus, in die Demokratie. Der Relativismus fordert einen demokratischen Staat.

Die Demokratie ihrerseits setzt den Relativismus voraus -. diesen Satz hat Hans Kelsen auf eine eindrucksvolle und überzeugende Weise begründet. Die Demokratie ist willens, die Macht jeder Überzeugung anzuvertrauen, welche die Mehrheit hat gewinnen können, ohne fragen zu dürfen, welches der Inhalt und der Wert einer solchen Überzeugung ist. Diese Haltung ist nur dann folgerichtig, wenn man alle politischen und sozialen Überzeugungen als gleichwertig anerkennt, d. h. auf der Grundlage des Relativismus. Damit scheinen wir vor einem unlösbaren Widerspruch zu stehen. Der Relativismus scheint sich selbst zu zerstören. Er geht aus von der praktischen Gleichwertigkeit aller politischen und sozialen Überzeugungen und Systeme, also der Gleichwertigkeit des demoliberalen Staats, des Diktaturstaats, des Korporationsstaats – und er mündet trotzdem aus in die Gleichsetzung des Relativismus mit der Demokratie.

Die Lösung dieses Dilemmas ergibt sich aus dem formalen Charakter der Demokratie. Die Freiheit, auf die Freiheit zu verzichten, ist in der Idee der Freiheit selber enthalten. Deshalb kann eine Diktatur in demokratischen Formen begründet werden. Die Demokratie ist gleichzeitig eine Staatsform neben anderen Staatsformen und zugleich die gemeinsame Grundlage aller Staatsformen.

Aber sie ist die Grundlage nicht für das Entstehen, sondern auch für den Bestand aller Staatsformen. Keine Staatsform kann sich endgültig von ihrer demokratischen Grundlage lösen. Die Mehrheit von heute kann nicht eine Diktatur begründen, die für alle Majoritäten von morgen und übermorgen unzerstörbar wäre. Nemo plus iuris ad alium transferre potest quam ipse habet. Die Demokratie kann verzichten zugunsten einer diktatorialen Verfassung, aber sie kann nicht auf ihr Recht verzichten, über die Verfassung selbst zu bestimmen. Das ist nicht nur eine soziologische Unmöglichkeit, sondern eine juristische Unmöglichkeit. Das Recht des Plebiszits über die Verfassung ist ein ungeschriebenes Gesetz, ein stillschweigender und selbstverständlicher Bestandteil jeder Verfassung.

Diese letztendige Demokratie, diese Volbssouveränität ist also – wir haben es gesehen – eine unerschütterliche Folge des Relativismus. Die Demokratie kann alles tun – nur nicht endgültig auf sich selbst verzichten. Der Relativismus kann jede Meinung dulden – außer der Meinung, welche behauptet, absolut zu sein. Daraus ergibt sich die Haltung des demokratischen Staates gegenüber antidemokratischen Parteien. Er wird jede Meinung zulassen, die bereit ist, mit den anderen Meinungen in den ideologischen Kampf einzutreten, und erkennt sie insoweit als gleichwertig mit sich selbst an. Aber wenn eine Meinung absolut gültig zu sein behauptet und aus diesem Motiv sich berechtigt glaubt, die Macht ohne Rücksicht auf die Mehrheit zu ergreifen oder zu behalten, dann muß man sie mit ihren eigenen Mitteln bekämpfen, nicht allein mit der Idee und der Diskussion, sondern mit der Macht des Staates. Relativismus ist die allgemeine Toleranz – nur nicht Toleranz gegenüber der Intoleranz.

Bis hierhin war unsere Deduktion rein ideologisch, ohne der soziologischen Wirklichkeit Rechnung zu tragen. Wir haben für alle verschiedenen Rechtsüberzeugungen eine Gleichheit der Durchsetzungschancen vorausgesetzt, nur ein Unterschied dieser Chancen wurde anerkannt – er ergibt sich auch aus der verschiedenen Überredungskraft der Überzeugungen, aus der verschiedenen ideologischen Macht der Ideen. Aber dieser fiktiven Gleichheit der Chancen für alle Überzeugungen entspricht in der Wirklichkeit eine unendliche Ungleichheit. Im Wettbewerb der Ideen werden diejenigen siegreich sein, denen eine soziologische Macht, sei es das Kapital, sei es die Masse, ihre suggestive Kraft zur Verfügung stellt. Man muß alle diese irrationalen Mächte neutralisieren, wenn sich die eigene Macht der Ideen, ihre ideologische Macht verwirklichen soll. Die Vernichtung aller irrationellen und unrationalen Mächte, die Befreiung der eingeborenen ideologischen Macht der Idee, der Sprung von der Notwendigkeit in die Freiheit, ist aber der Sozialismus. So mündet der Relativismus aus in den Sozialismus.

Es sind herkömmliche Ideen, welche hier entwickelt worden sind, aber sie haben, wie mir scheint, eine neue Grundlage erhalten, nämlich den Relativismus. Die ars nesciendi hat sich wieder einmal fruchtbar erwiesen. Ein logisches Wunder hat sich vollzogen: das Nichts hat aus sich heraus das All geboren. Wir sind ausgegangen von der Unmöglichkeit, das gerechte Recht zu erkennen, und wir enden damit, bedeutsame Erkenntnisse über das gerechte Recht in Anspruch zu nehmen. Wir haben aus dem Relativismus selbst absolute Folgerungen abgeleitet, nämlich die überlieferten Forderungen des klassischen Naturrechts. Im Gegensatz zum methodischen Prinzip des Naturrechts ist es uns gelungen, die sachlichen Forderungen des Naturrechts zu begründen: Menschenrechte, Rechtsstaat, Gewaltenteilung, Volkssouveränität. Freiheit und Gleichheit, die Ideen von 1789, sind wieder aufgetaucht aus der skeptischen Flut, in der sie zu ertrinken schienen. Sie sind die unzerstörbare Grundlage, von der man sich entfernen kann, aber zu der man immer zurückkehren muß.

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