Die Wandlung des Gewaltenteilungsprinzips

Aus dem Text:

„…. Das Prinzip der Gewaltenteilung ist, wie andere organisatorische Verfassungsprinzipien, nicht Selbstzweck, sondern soll bewirken, daß durch Aufteilung der Macht auf Träger unterschiedlicher Interessenrichtung die Machtträger sich gegenseitig zu größerer Richtigkeit steigern. Das Zusammenspiel der Machtträger soll eine möglichst große Richtigkeitschance für Gemeinschaftsentscheidungen sichern. ….“

 

Auszug (Kurzzitat) aus

Prof. Dr. Hans Herbert v. Arnim

Staatslehre der Bundesrepublik Deutschland

Verlag Franz Vahlen GmbH München 1984

 

 

Kapitel 8, Seiten 500 – 505

Wandlung des Gewaltenteilungsprinzips

Das Prinzip der Gewaltenteilung und der Gewaltenkoordinierung gehört seit den klassischen Darstellungen durch Locke (oben D II 1) und Montesquieu (oben D III) zu den Kernbestandteilen westlichen Verfassungsdenkens. Angesichts einer seitdem völlig gewandelten Verfassungslage scheint das Prinzip allerdings heute vielfach „unwirklich und fassadenhaft“.1 Das gilt jedenfalls dann, wenn man es auf die überkommene Auslegung festschreibt und eine Anpassung an die modernen Gegebenheiten, insbes. eine Einbeziehung der neu entstandenen politischen Machtträger und Machtzentren, versäumt. Nur bei solcher Fortentwicklung kann das Prinzip auch heute noch wirken und seinen zeitlosen Sinn entfalten.

Das Prinzip der Gewaltenteilung ist, wie andere organisatorische Verfassungsprinzipien, nicht Selbstzweck, sondern soll bewirken, daß durch Aufteilung der Macht auf Träger unterschiedlicher Interessenrichtung die Machtträger sich gegenseitig zu größerer Richtigkeit steigern.2 Das Zusammenspiel der Machtträger soll eine möglichst große Richtigkeitschance für Gemeinschaftsentscheidungen sichern. Darin liegt der bleibende Sinn, dem das Gewaltenteilungsprinzip über alle Änderungen der politischen Kräfte und der staatlichen Einrichtungen hinweg zu dienen bestimmt ist.3 Wie die Machtverteilung erfolgen soll, ist damit noch nicht gesagt. Gewaltenteilung ist ein durchaus unterschiedlicher Ausprägung zugängliches Prinzip. Es ist jeder Zeit aufgegeben, die ihrer Situation und ihren Problemen angemessene Verteilungsform zu finden.4 Notwendige Voraussetzung bleibt aber immer, daß überhaupt eine Aufteilung der Macht besteht, die bewirkt, daß Begrenzungen durch Gegengewichte gesetzt werden. Montesquieu war von den realpolitischen Machtträgern seiner Zeit ausgegangen und hatte die Exekutivgewalt dem Monarchen zugeordnet, die Legislative dagegen dem Volk und dem Adel gemeinsam, die sie durch volksgewähltes Parlament und Adelskammer ausüben sollten, und die politischen Akteure durch ein kunstvolles Netz von „checks and balances“ miteinander verbunden. Dieses Modell hatte im vorigen Jahrhundert auch der Verfassungslage in Deutschland einigermaßen entsprochen.

In diesem auf den Gegensatz von monarchischer Regierung und gewähltem Parlament bezogenen Bild haben nun aber wichtige politische Machtträger unserer Tage noch keinen Platz, vor allem die Parteien und die Interessenverbände. Mit ihnen sind neue politische Akteure herangewachsen, die auf der geschichtlichen Bühne alsbald Hauptrollen übernommen haben (oben F I). Auch die Rechtsprechung, die in Montesquieus Augen noch ganz unbedeutend („en quelque facon nulle“) war, hat einen Aufstieg sondergleichen erlebt. Vor allem das Bundesverfassungsgericht ist zu einem politischen Gestaltungsfaktor geworden (oben Q I). Weiter sind hier die Medien, insbes. auch der Rundfunk (oben T), Wissenschaft und Sachverständigenräte (S), Bundesbank (oben O II) und Rechnungshöfe (oben R) zu nennen.

Kennzeichen für die neuere Entwicklung ist, daß Parteien und Verbände nicht nur neben den überkommenen Staatsorganen und außerhalb von ihnen wirken, sondern diese selbst nach Möglichkeit zu durchdringen und ihrem Einfluß zu unterwerfen suchen (oben F I und Kap. 5 Vorbem.). Dies hat Folgen für das Verständnis jener Staatsorgane. Regierung, Parlament und Verwaltung sind nur noch vor dem Hintergrund des Wirkens der Parteien und Verbände zu verstehen, die sie wie ein mächtiger Überbau in ihr Kraftfeld einspannen. So hat das Gewicht der Parteien und ihr Kampf um die politische Macht dazu geführt, daß der klassische Gegensatz von Regierung und Parlament, wie er auch noch in Art. 20 II GG angesprochen ist, immer mehr überlagert wird vom Gegensatz zwischen Regierungs- und Oppositionsparteien (oben L 1.1). Aus den gleichen Gründen schlägt auch im Bundesrat oft der Parteiengegensatz durch (oben M). Auch die organisierten Interessen suchen auf Regierung und Parlament Einfluß zu nehmen.

Die Tendenz der Parteien, alle überkommenen Gewalten zu durchdringen und gewissermaßen gleichzuschalten, wird auch manifest bei der Verwaltung. Hier greift die parteipolitische Ämterpatronage bei Einstellungen und Beförderungen immer mehr um sich. Gleichzeitig mit der Einwirkung der Parteien auf das Verwaltungspersonal nehmen auch die Zahl und das Gewicht der Verwaltungsangehörigen in den Parteien zu. Die Wahllisten der Parteien strotzen von Beamten, und in den Parlamenten von Bund und Ländern ist ihr Anteil hoch. Daraus ergibt sich eine wechselseitige personelle Verschränkung zwischen Parlament und Verwaltung, die wesentlich von den Parteien vermittelt wird (oben P IV). Auch in den Rundfunk- und Fernsehanstalten bemühen sich die Parteien um möglichst große Patronageanteile (oben T III 2.4). Hier ist der Gleichschaltungsprozeß besonders fortgeschritten.

Parteien (und teilweise auch Verbände) beschränken ihren Einfluß keinesfalls auf Regierung, Parlament, Verwaltung und Medien, sondern versuchen, auf alle politischen Machtträger auszugreifen. Dies gilt für die Gerichte, auch das Bundesverfassungsgericht, ebenso wie z. B. für die Rechnungshöfe (oben R V112).

Hier zeigt sich: Das uralte und doch ewig aktuelle „Gesetz der Macht“ (Kägi), wonach die Mächtigen im Staat dazu neigen, ihre Macht solange auszuweiten, bis sie an Grenzen stoßen – Montesquieu spricht von einer „expérience éternelle“ -, gilt auch für Parteien und Verbände, ja es gilt für diese heute in besonderem Maße, nachdem sie zu den politisch mächtigsten Gruppierungen aufgestiegen sind.

Andererseits fragt es sich, ob der geschilderte Durchdringungsprozeß wirklich so bedenklich ist, wie es zunächst scheint. Stehen die Parteien nicht miteinander in Wettbewerb um Wählerstimmen und halten sich auf diese Weise gegenseitig in Schach? Trifft nicht auch jedes organisierte Interesse auf zahlreiche andere, so daß eine übermäßige, einseitige Interessendurchsetzung verhindert wird? Anders gewendet: Ist nicht neben und teilweise an die Stelle der überkommenen Dreiteilung eine neue Aufteilung der Gewalten auf mehrere Parteien und zahlreiche Verbände getreten, deren Funktionstüchtigkeit die teilweise Funktionslähmung der überkommenen Teilung kompensiert?

In der Tat: Könnte man davon ausgehen, daß das Wirken der Parteien und Verbände insgesamt zu ausgewogenen Gesamtresultaten führt, dann würden die geschilderten Tendenzen viel von ihrer Bedrohlichkeit verlieren. In diese Richtung gehen die Thesen der Pluralismustheorie (oben F II), und man wird ihr durchaus ein Stück Weges folgen können. Regierungs- und Oppositionsparteien halten sich gegenseitig in Schach. Auch die Verbände bilden Gegengewichte untereinander und gegenüber den Parteien. In diesem Sinne ist es wohl auch zu verstehen, wenn Joseph Kaiser „das Zusammenspiel, die Konkurrenz und die Balance der organisierten Interessen“ als „Gleichgewichtssystem“ besonderer Art bezeichnet und es eine „faktische Repräsentation“ genannt hat.5

Auf der anderen Seite muß man sich aber vor einer allzu harmonisierenden Sicht hüten. Es gibt typische, und zwar gravierende Defizite und Fehlentwicklungen im Spiel der Parteien und Verbände (Pluralismusdefizite). Dies wurde bereits dargelegt. Parteien und Verbände neigen dazu, gewisse, z. T. besonders wichtige Belange nicht ausreichend zu berücksichtigen oder ganz auszublenden (oben F V; I V; J II; K). Der von der Gesamtheit der Parteien und Verbände ausgehende Druck, sozusagen die Resultante im Parallelogramm der Kräfte, ist alles andere als ausgewogen.

Hinzu kommt ein weiteres. Das überkommene Gewalten-Gegeneinander ist ja nicht durch ein neues ersetzt worden, sondern beide sind miteinander verschränkt und vermischt, und diese Mischung führt, wie dargelegt (L II 2.4.2), dazu, daß der politische Druck zu rationaler öffentlicher Begründung erlahmt und damit auch die Rationalitätschance der Entscheidungen gemindert wird. Zugleich bleibt die Transparenz für den Bürger auf der Strecke, weil die Verantwortlichkeiten verwischt werden. Der Wähler kann häufig gar nicht mehr ermitteln, welcher Partei er welches Gesetz verdankt.

Die gegenseitige Durchdringung schwächt im übrigen die Möglichkeit, daß die eine Instanz der anderen überhaupt noch wehtut, mit der Folge, daß auch Fehlentwicklungen kaum noch einer wirksamen Kontrolle unterliegen. Als Beispiel sei wieder auf den öffentlichen Dienst und den Rundfunk hingewiesen. Die wechselseitigen Durchdringungen sind hier ja ein Hauptgrund für die Schwäche der Kontrolle der Verwaltung durch das Parlament und durch die Parteien, ein Tatbestand, der in die Bemerkung gekleidet wurde: „Der öffentliche Dienst ist fest in der Hand des öffentlichen Dienstes“.6 Wirkliche Reformen des öffentlichen Dienstes werden fast unmöglich. Dagegen sind massive Besoldungserhöhungen und Stellenverbesserungen aufgrund der „Selbstbedienung des öffentlichen Dienstes mit Hilfe des Gesetzgebers“ (Wagener) in der Vergangenheit um so leichter durchsetzbar gewesen. Wie die wechselseitige Verschränkung und Verfilzung eine wirksame Kontrolle des Rundfunks durch Parlamente und Regierungen erschwert, zeigen die Berichte der Rechnungshöfe, die anläßlich der Gebührenerhöhung zum 1. 7. 1983 vorgelegt wurden und eine Vielzahl von gewichtigen Mängeln aufdeckten7 – aber dennoch die Erhöhung nicht verhindert haben.

Aus allem wird deutlich, daß die Gefahrenlinien sich heute verschoben haben: Es bedarf wirksamer Gegengewichte gegen Pluralismusdefizite. Zu solcher Gegengewichtsfunktion prädestiniert erscheinen Kontrollinstanzen, die bewußt in Distanz zu den Parteien und Verbänden gesetzt sind und ihren Sinn vor allen Dingen von daher erhalten, daß sie auch gegen solche Fehlentwicklungen ausschwenken können, die vom Wirken der Parteien und Verbände drohen.8 Dies sind neben den Gerichten auch die Rechnungshöfe, die Verwaltung, die Bundesbank, die Rundfunkanstalten und Sachverständigenkommissionen (oder sollten es doch sein). Diese Einrichtungen werden so zu Elementen eines gewandelten und erneuerten Verständnisses der Gewaltenteilung und Gewaltenkoordinierung.9 Vor diesem Hintergrund gewinnen die besonderen Anforderungen, die an ihre Organisation zu stellen sind, vor allem eben die Sicherung der Unabhängigkeit,10 erhöhte Dringlichkeit. Umgekehrt gibt die Tendenz zu einer immer massiveren parteilichen Gleichschaltung der Verwaltung und der Rundfunkanstalten Anlaß zum Alarm.11 Im Zusammenhang mit der (durch die Parteien vermittelten) „Verbeamtung der Parlamente“ hat das Bundesverfassungsgericht denn auch die Frage aufgeworfen, ob diese Entwicklung mit einem „materiell verstandenen Gewaltenteilungsprinzip“ vereinbar sei.12

Auch die Unabhängigkeit der anderen genannten Einrichtungen ist stets prekär; dies ist am Beispiel des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesrechnungshofs dargestellt worden. Bedenkt man, daß das Bundesverfassungsgericht über die Aktionen der von den Parteien gestellten Parlamente und Regierungen zu entscheiden hat, so wird verständlich, daß die Parteien der Versuchung erliegen können, hier trotz der in Art. 97 GG gewährleisteten richterlichen Unabhängigkeit Einfluß zu nehmen. Zentrales Einfallstor für solche Einflußversuche ist die Bestellung der Richter, bei welcher die Parteien mitwirken. Das Bundesverfassungsgerichtsgesetz enthält deshalb einige Vorkehrungen, um die Unabhängigkeit dennoch möglichst zu wahren (oben Q II). Dagegen fehlt es beim Bundesrechnungshof, dessen Mitgliedern ebenfalls richterliche Unabhängigkeit garantiert ist (Art. 114 II GG), teilweise an entsprechenden Vorkehrungen, was die Widerstände gegen eine parteipolitische Gleichschaltung der Spitze des Bundesrechnungshofs (ebenso wie auch der Landesrechnungshöfe) vermindern mußte und sowohl Quelle der Kritik als auch Ansatzpunkt für eine Reform zum Besseren ist (oben R VII 2). Entsprechendes gilt für die Bundesbank (oben O II).

Ein großes Problem besteht allerdings darin, daß Korrekturen von Fehlentwicklungen des parlamentarischen Systems durch Rechtsprechung, Finanzkontrolle, wissenschaftliche Beratung etc. nur teilweise und z. T. höchst unvollkommen ausgeglichen werden können. Angesichts der Weite der Kontrollmaßstäbe und der Vorhandstellung von Gesetzgebung und Regierung können zwar einzelne Ausreißerentscheidungen verhindert werden. Wegen des großen Ermessensspielraums werden sich die Unausgewogenheiten des Kräftespiels aber im tagtäglichen politischen Prozeß dahin auswirken, daß das Ungleichgewicht die Grundlinie im Strom der einzelnen Entscheidungen tendenziell miterfaßt. Will man hier Remedur schaffen und Ausgewogenheit möglichst herstellen, dann muß das politische Kräftespiel selbst anders organisiert werden. Dieser Ansatz läuft auf Verfassungsänderungen hinaus. Im gegebenen grundgesetzlichen System lassen sich die erforderlichen Korrekturen wohl kaum mehr in vollem Umfang bewerkstelligen. Derartige Verfassungsänderungen bedeuten keine Loslösung von den verfassungsrechtlichen Grundwerten. Im Gegenteil, die These geht dahin, daß die Grundwerte sich unter gewandelten Verhältnissen nur noch verwirklichen lassen, wenn gewisse Änderungen der Ordnung und Organisation vorgenommen werden. Wie es zur Zeit des Absolutismus darum ging, Grundrechte zu proklamieren und diese nicht nur durch die Rechtsprechung, sondern auch durch eine gewaltenteilende Organisation zu sichern, so müssen auch heute beide Wege in Erwägung gezogen werden: einmal die Kontrolle der Entscheidungen durch Gerichte etc. Daneben muß aber auch darüber nachgedacht werden, ob nicht eine organisatorische Umgestaltung des politischen Prozesses nötig wird und wie eine solche aussehen könnte.

Anmerkungen

(1) Werner Weber, Die Teilung der Gewalten als Gegenwartsproblem, FS Carl Schmitt, 1959, 253 (260).

(2) Krüger, Staatslehre, 269; Herzog, Staatslehre, 350ff.

(3) Herzog, Staatslehre, 235f

(4) Kägi, Von der klassischen Dreiteilung zur umfassenden Gewaltenteilung. Erstarrte Formeln – bleibende Ideen – neue Formen, FS Huber, 1961, 151.

(5) Kaiser, Repräsentation, 355ff.

(6) Mitgeteilt von Wagener, Der öffentliche Dienst im Staat der Gegenwart, VVDStRL 37, 215 (237).

(7) Vgl. z. B. den (wohl als einzigen für die Öffentlichkeit zugänglichen) Bericht des Landesrechnungshofs Nordrhein-Westfalen über den Westdeutschen Rundfunk vom 3. 1. 1983.

(8) Vgl. auch Zippelius, Staatslehre, § 20 II 2.

(9) v. Arnim, Gemeinwohl und Gruppeninteressen, 196f. Vgl. zur Rolle der Gerichte auch Steffani, Rechtsprechende Gewalt in der pluralistischen Demokratie. Aspekte der Gewaltenteilung in der parlamentarisch-pluralistischen Demokratie von heute (1978), in: ders., Pluralistische Demokratie, 117ff.

(10) Vgl. auch Schuppert, Die Erfüllung öffentlicher Aufgaben durch verselbständigte Verwaltungseinheiten, 1981, 354ff., 382ff.

(11) Einige Verbesserungsvorschläge sind oben P und T behandelt.

(12) BVerfGE 40, 296 (321)

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Prof. Dr. Hans Herbert v. Arnim ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, insbesondere Kommunalrecht und Haushaltsrecht, und Verfassungslehre an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer

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