Vorfragen richterlicher Ethik

 

 

 Aus dem Text:

„…. Die deutsche Justiz ist fremdbestimmt. Sie wird von einer anderen Staatsgewalt – der Exekutive – gesteuert, an deren Spitze die Regierung steht. Deren Interesse ist primär auf Machterhalt gerichtet……Die „moralische Atmosphäre“ der rechtsprechenden Gewalt wird in Deutschland maßgeblich von der Justizverwaltung bestimmt. Die von der Justizverwaltung verfolgten Machtinteressen der Regierung liegen wie ein Fangnetz über der rechtsprechenden Gewalt. Das subaltern-bürokratische Denken und Handeln der Exekutive lähmt jedes richterliche Engagement. Die quantitätsorientierte Fixierung an Pensen- und Erledigungszahlen hat mit der Richtigkeit und Gerechtigkeit richterlicher Entscheidungen nichts zu tun. Ein Beurteilungs- und Beförderungswesen, in dem die Lüge als Ritual allgemein akzeptiert ist, korrumpiert Menschen und zerstört ihre Moral ….“

 

Horst Häuser, Richter am Verwaltungsgericht (Wiesbaden):

Beitrag „Vorfragen richterlicher Ethik – Zur gesellschaftlichen und individuellen Entwicklung von Moral“. Abgedruckt in Betrifft JUSTIZ 2003, Seiten 186 ff.

I.

Am Beginn des neuen Jahrtausends steckt die Gesellschaft in einer schweren ethischen Krise, denn der Konsens darüber, was gut und böse ist, schwindet mehr und mehr.

In unserer Industriegesellschaft hat ein grundlegender Wertewandel stattgefunden. Marion Gräfin Dönhoff hat die tiefgreifenden Veränderungen in wenigen Worten zusammengefasst. „Weg von den überkommenen Werten wie Pflichterfüllung, Verantwortung tragen, Gemeinsinn üben – hin zu einer individualistischen Orientierung auf Eigennutz, Selbstverwirklichung und hedonistischen Materialismus“ („Zivilisiert den Kapitalismus“ 1997, S. 7). Die moderne Gesellschaft ist durch Säkularisierung, Pluralisierung, Ökonomisierung und Individualisierung gekennzeichnet. So begrüßenswert die Emanzipation des Individuums einerseits ist, so bedenklich ist andererseits der rücksichts- und grenzenlose Egozentrismus, der unsere Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung zunehmend bestimmt. Ist das Pendel der Entwicklung zu weit in die andere Richtung ausgeschlagen? Die neue Orientierung an Geld, Macht und Eigennutz führt nicht nur zu sozialer Kälte, zu Isolation und Desintegration des Einzelnen, sondern auch zur Erosion der Fundamente unserer Demokratie. Wir stehen letztlich vor der Frage, wie eine Gesellschaft, die die Selbstverwirklichung des Individuums in den Mittelpunkt stellt, noch als solidarische Gemeinschaft zusammengehalten werden kann?

Auf der Suche nach Mitteln und Wegen des Zusammenhalts reden viele von ETHIK und fordern eine neue MORAL. Moralische und ethische Grundsätze sind Handlungsanforderungen an andere und an uns selbst, die den Sinn haben, normative Verpflichtungen sittlicher Art einzuhalten und dadurch das Verhalten verschiedener Individuen auf einer gemeinsamen Ebene verbindlich zu koordinieren. Diese Verbindlichkeit kann auf autoritärem Zwang und Gehorsam beruhen, auf Ideologie, auf Tradition oder – in unserer Zeit – auf der grundsätzlichen Anerkennung moralisch-ethischer Normen, die mit guten Gründen in einem öffentlichen Diskurs innerhalb der Gesellschaft ausgehandelt werden. Nachdem mit der Aufklärung die metaphysischen Weltbilder staatlicher und kirchlicher Macht in sich zusammenfielen, ist die Rechtfertigung moralisch-ethischer Grundsätze in unserer heutigen Gesellschaft auf ein „nachmetaphysisches Begründungsniveau“ angewiesen, das – seit Kant – nur in der Vernunft bestehen kann.

Die Diskussion um eine neue Moral ist vor allem für die 68er Generation nicht selbstverständlich, da sie der „bürgerlichen Moral“ bisher eher skeptisch gegenüberstand. Ursache dieser kritischen Distanz war die Doppelmoral der Nachkriegsgesellschaft und die fehlende Aufarbeitung der nationalsozialistischen Unrechtsmoral. Doch es geht heute nicht mehr um die Rückkehr zur sexualfeindlichen und autoritätsgläubigen Moral der 50er und 60er Jahre des letzten Jahrhunderts, es geht vielmehr um den öffentlichen Gebrauch von Verantwortung und Vernunft in Staat und Gesellschaft.

Gerade in Deutschland sehen wir uns mit der These Adornos konfrontiert, Hitler habe den Menschen „einen neuen kategorischen Imperativ aufgezwungen: ihr Denken und Handeln so einzurichten, dass Auschwitz sich nicht wiederhole“. Insoweit kann der aktuelle Diskurs um Werte, Normen und Tugenden auch als ein Ringen um ein neues moralisches Selbstverständnis verstanden werden, mit dem wir Deutsche, die wir von unserer unseligen Untertanentradition geprägt sind, Anschluss an das demokratische Selbstbewusstsein anderer Nationen gewinnen können.

Moral gilt daher – auch innerhalb der kritischen Gesellschaftstheorie – nicht länger als herrschaftsstabilisierende, sondern als kritisch-emanzipatorische Kraft (Elbrecht/Wöll (Hrsg), „Psychoanalyse, Politik und Moral“, 1998, S. 7).

II.

Einige Berufe haben in Deutschland für ihren Fachbereich ein Berufsethos entwickelt. Sie haben – insb. wenn es um sensible Fragestellungen oder kritische Situationen geht – Verfahren oder Standards erarbeitet, mit denen moralische Aspekte berücksichtigt und ethisch reflektiert werden können (die Begriffe Ethik und Moral werden im Folgenden synonym verwandt, da unter Moral zumeist der Inbegriff des ethisch-sittlichen Verhaltens verstanden wird).

Sollten wir Richterinnen und Richter ebenfalls ein Berufsethos entwickeln?

Die XVII. Mitwirkungskonferenz der NRV(=Neue Richtervereinigung) – Fachgruppe „Justizstruktur und Gerichtsverfassung“, die vom 26. – 28. September 2003 in Fulda stattfand, hat sich mit dem Thema „Richterliche Ethik“ befasst. Dabei ging es uns um eine erste Annäherung an ein komplexes Thema, das durch die Initiativen der Vereinten Nationen und des Europarats einen aktuellen Bezug bekommen hat (vgl. Krix, „Richterliche Ethik – weltweit ein Thema“, DRiZ 2003, S. 149 if).

Vor drei Jahren haben die Vereinten Nationen eine Arbeitsgruppe von Richterinnen und Richtern beauftragt, Standards richterlicher Ethik zu kodifizieren, um dadurch die Integrität der Justiz und das Vertrauen der Bürger in sie zu stärken. Die richterliche Arbeitsgruppe, die sich nach dem Ort ihres ersten Zusammentreffens „Projekt Bangalore“ nennt, hat im Jahre 2002 ein Grundsatzpapier vorgelegt. Diese „Prinzipien von Bangalore“ zur Richterethik beruhen weitgehend auf den Vorstellungen der „common law“-Länder.

So enthält der Kodex das im anglo-amerikanischen Rechtsraum traditionelle Verbot für Richter, Mitglied einer politischen Partei zu sein. Er enthält weiterhin Einschränkungen richterlicher Meinungsfreiheit und sogar Verhaltensregeln für das richterliche Privatleben. Zudem sind Verstöße gegen Ethikregeln mit disziplinarischer Ahndung verknüpft. Dieser Kodex ist – wohl nicht zu Unrecht – in Europa auf Kritik gestoßen. Als „Antwort“ auf Bangalore hat der „Rat Europäischer Richter“ (Conseil Consultatif des Juges Européens – CCJE) im Auftrag des Europarats zu Fragen der richterlichen Unabhängigkeit und Unparteilichkeit im November 2002 Stellung genommen (www.drb.de/ccje-richterethik.pdf). Der CCJE-Entwurf knüpft an die kontinentaleuropäische Richtertradition an und will vor allem auf folgende Fragen Antwort geben:

Welche Verhaltensstandards sollten für Richter gelten?

Wie sollten Verhaltensstandards formuliert werden?

Welche Art disziplinarrechtlicher Haftung sollte, wenn überhaupt, für Richter gelten?

Bisher hat das Thema in Deutschland kaum Beachtung gefunden. Doch es ist zweifelhaft, ob man sich dieser Diskussion einfach entziehen kann. Im Rahmen unserer Mitwirkungskonferenz wollten wir daher zunächst die prinzipielle Frage klären, ob wir uns an der aktuellen Diskussion beteiligen. Deshalb haben wir uns auch nicht mit konkreten Einzelfragen befasst, sondern uns allgemein und grundsätzlich mit dem Thema Moral beschäftigt.

Seit wann gibt es überhaupt eine individuelle Moral des Menschen, wann trat sie zuerst im gesellschaftlichen Bereich in Erscheinung und wie ist ihr Verhältnis zum Recht?

Die GESELLSCHAFTLICHE ENTWICKLUNG DER MORAL reicht nicht so weit zurück, wie man vermuten könnte. In vorstaatlichen Gesellschaften, die egalitär organisiert waren und somit noch keine institutionell verfestigte Autorität kannten, waren Moral, Sitte und sonstige Gewohnheiten noch nicht getrennt (vgl. dazu Uwe Wesel, „Frühformen des Rechts in vorstaatlichen Gesellschaften“, 1985, S. 334 ff). Damals gab es noch keine individuelle Moral des Menschen, sondern nur kollektive Verhaltensmuster. Das Verhalten der Menschen war konformistisch und dementsprechend gab es nur eine Allgemeinmoral. Die Individualmoral bildete sich erst mit dem Untergang der frühen egalitären Gesellschaften heraus. In dieser Zeit entstand auch das Recht als Steuerungs- und Herrschaftsinstrument der neuen kephalen Gesellschaften (vom griechischen kephale = Kopf), also der Gesellschaften „mit Kopf“ in Gestalt eines Häuptlings oder Königs (vgl. Betrifft JUSTIZ Nr. 66 (2001) S. 92 ff).

Dennoch stimmte das Recht mit der Moral bzw. Ethik in der Antike noch weitgehend überein. Schon die Worte weisen auf einen engen Zusammenhang hin: Ethik kommt vom griechischen ethos und Moral vom lateinischen mos, beides bedeutet soviel wie Sitte, Brauch, Gewohnheit. Die Moral des Individuums stand damals weit mehr als heute mit den Sitten der Gemeinschaft und dem Recht des Staates in Einklang. Diese grundsätzliche Einheit von Recht und Moral bestand bis ins Mittelalter fort. Die entscheidende Trennung erfolgte erst in der Neuzeit mit der Überwindung des Absolutismus durch die Aufklärung, die zugleich auch den kirchlichen Einfluss zurückdrängte. Im Interesse der Freiheit und der lndividualität werden seitdem Recht einerseits und Moral/Ethik/Sittlichkeit andererseits unterschieden, wenn sie auch nicht völlig getrennt sind. Seit dieser Zeit – so ist in den meisten juristischen Lehrbüchern zu lesen – bestimmt das Recht das äußere Verhalten des Menschen und die Moral die innere Einstellung.

Doch diese Zweiteilung ist wenig realistisch. Meist wird – vor allem von Juristen – der Einfluss des Rechts als Instrument der sozialen Steuerung über- und die Orientierung des Menschen an anderen sozialen Wert- und Ordnungssystemen unterschätzt. Es gibt aber eine Vielzahl von „nicht-rechtlichen“ Prinzipien und Werten, an denen sich Menschen in einer Gesellschaft traditionell, emotional und rational orientieren, „die rechtliche Erwägungen eher randständig erscheinen lassen“ (Rottleuthner, „Einführung in die Rechtssoziologie“, 1987, S. 80).

Dabei geht es letztlich um die immer wieder aufgeworfene und doch nie vollständig beantwortete Frage nach dem Verhältnis von rechtlichen zu außerrechtlichen Normen, die gemeinsam das Leben der Menschen bestimmen, was sich einerseits als Ergänzung, andererseits aber auch als Konflikt darstellen kann.

Hier treffen wir auf den „nie verstummenden Widerstreit zwischen dem Gewissen und dem Recht“ (Zippelius, „Recht und Gerechtigkeit in der offenen Gesellschaft“, Kapitel 13) und die damit verbundenen großen Fragen nach den Möglichkeiten und Grenzen der Willensfreiheit, der Werterkenntnis, des Rechtsgefühls, der Gerechtigkeit, des Widerstands- und des Naturrechts.

Während die „konkurrierende Normorientierung“ des Menschen (an rechtlichen rechtlichen Normen) in der Vergangenheit so0gar zu Glaubenskriegen geführt hat, ist sie in unserer heutigen Gesellschaft, die eher von pluralistischer Toleranz als von fundamentalistischen Gegensätzlichkeiten geprägt ist, nicht mehr so konflikthaft und damit auch nicht mehr so brisant (heute sind allenfalls noch Fälle „zivilen Ungehorsams“ denkbar). Das gilt um so mehr, wenn außerrechtliche Normen – wie die einer neuen Ethik – in einem öffentlichen Diskurs auf der Grundlage der Vernunft (s.o.) zustande kommen. Hier dürfte eher eine Ergänzung als ein Konflikt das Verhältnis zu den rechtlichen Normen bestimmen. Zudem ist eine ethisch-moralische Reflexion bei besonders sensiblen oder neu auftretenden Problemen oftmals die einzige Handlungsorientierung überhaupt, da es hier meist an einer gesetzlichen Normierung fehlt.

In unserer Zeit des Werteverfalls, in der die moralische Überzeugung des Individuums vom hedonistischen Materialismus mit seiner Konsumorientierung in den Hintergrund gedrängt wird, liegt zugleich die Chance zur Entwicklung einer neuen Moral. Es gibt auch erste Anzeichen für eine postmaterialistische Einstellung der Menschen, wie z.B. die zunehmende Berücksichtigung der Belange der Umwelt erkennen lässt. So scheint gerade im Umweltbereich eine „neue ökologische Moral“ dem Recht voranzugehen (Röhl, „Rechtssoziologie“, 1987, § 32, 4 b).

Auch im Bereich der Dritten Gewalt könnte eine neue Moral – in Gestalt eines eigenen Berufsethos – nützlich, wenn nicht sogar notwendig sein. Die bestehenden Mängel sind hinreichend bekannt: hierarchische statt demokratische Strukturen, vielfältige Abhängigkeiten von der Exekutive, Bürokratisierung und Rechtstechnokratisierung, Quantitäts- statt Qualitätsorientierung, Vernachlässigung der Einzelfallgerechtigkeit, Personalsteuerung und Ämterpatronage, Karrieredenken und vorauseilender Gehorsam, mentale Verbeamtung und Resignation, „innere Kündigung“ und und und…

Es ist mit den Vorgaben des Grundgesetzes und der Würde des richterlichen Amtes unvereinbar, wie die Richterinnen und Richter im bestehenden Justizverwaltungssystem behandelt werden, wie sie sich behandeln lassen und wie sie oft auch selbst handeln. Hier gilt es, innerhalb der Richterschaft ein entsprechendes Problembewusstsein zu wecken und ethische Standards zu entwickeln, deren Einhaltung wir von uns selbst und von anderen erwarten. Es ist durchaus denkbar, dass eine neue, von der Richterschaft entwickelte richterliche Ethik, die Vorbilds- und keinen Sanktionscharakter hat, dem Recht vorausgeht und später zur Ausgestaltung oder Umgestaltung des gesetzten Rechts führt.

III.

Neben der gesellschaftlichen Entwicklung der Moral ist auch die INDIVIDUELLE ENTWICKLUNG DER MORAL von besonderer Bedeutung, also die Frage, wie sich die moralische Entwicklung in der Person des Menschen vollzieht.

Die Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit verläuft in einem kontinuierlichen Prozess, der sich über verschiedene Altersstufen und Phasen erstreckt. Die Entwicklungspsychologie befasst sich mit diesen Veränderungen, die durch körperliches Wachstum und durch seelische Reifung, durch Anpassung an die Umwelt und durch Lernprozesse erklärt werden können. Von besonderer Bedeutung sind die psychosexuelle und die psychosoziale Entwicklung des Individuums, aber auch der kognitiven und moralischen Entwicklung kommt ein besonderes Gewicht zu. Unter der moralischen Entwicklung versteht man jenen Teil des Sozialisationsprozesses, der zur zunehmenden Internalisierung grundlegender kultureller Werte und Regeln durch das Individuum führt. Die Internalisierung solcher „kultureller Standards“ befähigt das Individuum, auf der Grundlage dieser Standards moralische Urteile zu fällen und sowohl gegenüber sich selbst als auch gegenüber anderen zu begründen, warum man diese Standards anerkennt.

Die STUFEN DER MORALISCHEN ENTWICKLUNG des Menschen sind von dem amerikanischen Psychologen Lawrence Kohlberg (1927 – 1987) eingehend untersucht worden (vgl. z.B. Colby/Kohlberg, „Das moralische Urteil: der kognitionszentrierte entwicklungspsychologische Ansatz“, in Kindlers „Psychologie des zwanzigsten Jahrhunderts“, 1980, Bd. VII, S. 348 ff.). Seine Erkenntnisse und Theorien, über die hier nur ein kurzer Überblick gegeben werden kann, haben in den letzten 40 Jahren zu einer enormen Expansion dieses Themenbereichs innerhalb der Sozialwissenschaften geführt.

Kohlberg, der zunächst Jura und dann Psychologie studiert hatte, war zeit seines Lebens besonders an Fragen der Gerechtigkeit interessiert. Er baute auf dem Werk des berühmten Schweizer Psychologen Jean Piaget (1896 – 1986) auf, der bereits 1932 ein Buch über „Das moralische Urteil beim Kind“ geschrieben hatte. Piaget untersuchte schon damals, wie Kinder zum Denken und Urteilen gelangten. Er entdeckte, dass die schon von Kant unterschiedenen Formen der Moral – der an äußeren Regeln ausgerichteten heteronomen Moral einerseits und der eigentlichen, von eigenen Grundsätzen bestimmten autonomen Moral andererseits – sich im Menschen entwicklungspsychologisch wiederfinden lassen: im Übergang von der Fremdbestimmung des Kindes durch die elterliche Autorität hin zur Selbstbestimmung des heranwachsenden Menschen.

Die Untersuchungsmethoden von Piaget wurden von Kohlberg weiterentwickelt Er befragte seine Versuchspersonen beginnend im Kindesalter – über Jahrzehnte hinweg in mehrjährigen Intervallen zu moralischen Konfliktsituationen. Zum Beispiel: Ist es in einer lebensbedrohlichen Situation besser, einen bedeutenden oder zehn unbedeutende Menschen zu retten? Oder: darf ein Mann für seine todkranke Frau ein lebensrettendes Medikament stehlen, wenn der Erfinder dafür einen um ein Vielfaches über den Herstellungskosten liegenden Betrag fordert, den der Mann unter keinen Umständen aufbringen kann?

Dabei kam es Kohlberg weder darauf an, wie sich die Versuchspersonen im Ergebnis entschieden, noch ob die getroffene moralische Entscheidung auch tatsächlich in die Realität umgesetzt werden würde (was von einer Vielzahl weiterer Faktoren abhängig wäre). Wie Piaget ist auch Kohlberg nicht an der äußerlichen Entwicklung des moralischen Verhaltens, sondern an der inneren Entwicklung des moralischen Verständnisses interessiert. Es geht ihm nicht darum, was eine Person in einem moralischen Konflikt letztlich tatsächlich tun würde, sondern warum eine Person etwas für moralisch richtig oder falsch hält. Kohlberg untersuchte also die Begründungsstrukturen, die unterschiedlich komplex sein können und die er dementsprechend bestimmten Begründungsniveaus zuordnete.

Kohlberg unterscheidet 3 BEGRÜNDUNGSNIVEAUS mit jeweils 2 Unterstufen (also insgesamt 6 Entwicklungsstuten):

Präkonventionelles Niveau (mit den Entwicklungsstufen 1 und 2), auf dem sich die meisten Kinder, einige Heranwachsende und wenige Erwachsene befinden. Hier ist man noch nicht wirklich in der Lage, gesellschaftliche Regeln sinnhaft zu verstehen und zu billigen, sondern man befolgt sie lediglich aus Angst vor Strafe.

Konventionelles Niveau (mit den Entwicklungsstufen 3 und 4), auf dem sich die Mehrzahl der Jugendlichen und die meisten Erwachsenen bewegen. Man verhält sich konformistisch. Regeln werden eingehalten und gesellschaftlichen Erwartungen wird entsprochen, ohne ihrerseits jedoch einer hinterfragenden Bewertung unterzogen zu werden.

Postkonventionelles Niveau (mit den Entwicklungsstufen 5 und 6), das nur von einer kleinen Minderheit der Erwachsenen erreicht wird. Auf diesem Niveau versteht man die gesellschaftlichen Regeln und im Grunde akzeptiert man sie auch, aber diese Anerkennung beruht nicht auf der Konvention, sondern auf dem der Konvention zugrunde liegenden moralischen Prinzip. Dabei ist es gelegentlich möglich, dass das Prinzip mit der Konvention in Konflikt gerät. Dann richtet sich das Individuum nicht nach der Konvention, sondern nach dem moralischen Prinzip. Das postkonventionelle Niveau beruht auf dem Vertrauen in eine autonome Moral jenseits von Autoritäten aller Art.

Kohlberg geht davon aus, dass das jeweilige Begründungsniveau in engem Zusammenhang mit der soziaIen Perspektive steht, aus der das Individuum die gesellschaftliche Wirklichkeit beobachtet. Die soziale Perspektive bezieht sich darauf, wie das Individuum andere Menschen wahrnimmt, wie es ihre Gefühle und Gedanken interpretiert und wie es ihre Rolle oder Stellung in der Gesellschaft beurteilt.

Dem präkonventionellen Niveau (mit den Entwicklungsstufen 1 und 2) entspricht danach eine „konkret-individuelle“ soziale Perspektive, dem konventionellen Niveau (mit den Entwicklungsstufen 3 und 4) eine Perspektive als „Mitglied der Gesellschaft“ und dem postkonventionellen Niveau (mit den Entwicklungsstufen 5 und 6) eine Perspektive, die „der Gesellschaft vorgeordnet“ ist.

IV.

Betrachten wir die 6 ENTWICKLUNGSSTUFEN etwas näher:

Jede Stufe ist durch unterschiedliche Ansichten zu bestimmten Aspekten der Moralität gekennzeichnet, durch unterschiedliche Einschätzungen bestimmter Werte und durch unterschiedliche Gründe moralisch zu handeln. Die Entwicklung beginnt bei der Stufe 1 und verläuft in einer Reihenfolge, bei der die soziale Perspektive immer allgemeiner und umfassender wird. Auf jeder höheren Stufe werden die Argumente und Prinzipien der vorhergehenden Stufe integriert und differenziert. Dabei kann keine Stufe übersprungen werden. Die benötigte Zeit zur Erreichung der nächsten Stufe ist von Individuum zu Individuum (von Gesellschaft zu Gesellschaft, von Kultur zu Kultur) verschieden. Ebenso ist es möglich, dass die späteren Stufen – insbesondere die Stufen 5 und 6 des postkonventionellen Niveaus – nicht erreicht werden.

Eine nicht erreichte Stufe kann nur schwer von einer darunter liegenden Entwicklungsstufe aus verstanden werden.

1. Stufe: Orientierung an Strafe und Gehorsam

Das Kind geht von einem egozentrischen Standpunkt aus und berücksichtigt die Interessen anderer nicht. Regeln sind einzuhalten, weil ihm sonst eine Bestrafung droht. Insoweit reagiert das Kind zwar auf die ihm als „gut“ oder „böse“ vorgeschriebenen kulturellen Regeln, aber es versteht diese Forderungen nur im Hinblick auf deren physische Folgen. Die äußeren Konsequenzen einer Handlung – also ihre Belohnung oder Bestrafung – bestimmen somit ihr Gut- oder Bösesein, ohne Rücksicht auf einen dahinter liegenden Wert oder Sinn. Man hält an unabänderlichen Regeln fest, denen blindlings zu folgen ist. Folgsamkeit und fragloses Nachgeben gegenüber der Macht der Personen, die diese Regeln zur Geltung bringen (Eltern, Lehrer), sind quasi ein Selbstzweck.

2. Stufe: Instrumentell-egoistische Orientierung

Von einer individualistischen Perspektive aus erkennt das Kind, dass verschiedene individuelle Interessen miteinander im Konflikt liegen. Es bleibt aber bei der naiven egoistischen Orientierung, wobei allerdings gelegentlich auch dem Egoismus des anderen Rechnung getragen wird, allerdings nur als instrumentelles Mittel („Ich kratz dir deinen Rücken – Du kratzt mir meinen Rücken!“). Menschliche Beziehungen werden im Sinne von Austauschbeziehungen des Marktes verstanden, bleiben aber auf die Wechselseitigkeit des „do ut des“ beschränkt, ohne weitergehende Vorstellungen von Dankbarkeit oder gar Gerechtigkeit.

3. Stufe: Interpersonelle Konformität oder „good boy – nice girl“- Orientierung

Das Individuum steht nunmehr in Beziehungen zu anderen Individuen. Es ist sich der gemeinsamen Gefühle und Erwartungen bewusst, die nunmehr den Vorrang vor den egoistischen bzw. individuellen Interessen erhalten. Es herrscht weitgehende Einigkeit über das wechselseitig erwartete Verhalten mit stereotypen Vorstellungen über „natürliche“ Rollen (Sohn, Bruder, Freund). Es ist dem Individuum wichtig, diesen Erwartungen und Rollen zu entsprechen. „Gut“ ist nunmehr, was anderen – vor allem nahestehenden – Personen gefällt, ihnen hilft und ihren Beifall findet. Es ist die Moralität des „guten Kindes“, das durch Nettsein („being nice“) Ablehnung vermeiden und Anerkennung finden will. Man pflegt zwischenmenschliche Beziehungen und empfindet Wertschätzung, Vertrauen und Dankbarkeit.

4. Stufe: Orientierung an „Gesetz und Ordnung“

Das Individuum übernimmt nun die „System“-Perspektive, die sich weit über die Familie hinaus bis auf den Staat und die Nation erstreckt und in der alle Regeln und Rollen starr festgelegt sind. Man orientiert sich immer noch an der Autorität, die nunmehr aber eher prinzipiell verstanden wird (Gesetz, Religion). Man tut seine Pflicht, nimmt Rücksicht auf andere, zeigt Respekt vor der Autorität und will die soziale Ordnung um ihrer selbst willen erhalten, notfalls durch Strafe (law and order). Die Einstellung des Individuums gegenüber der gesellschaftlichen Ordnung geht über die bloße Anpassung hinaus und erstreckt sich auch auf die Rechtfertigung der Ordnung, einschließlich der Identifikation mit den Personen oder Gruppen, die als Träger der Ordnung auftreten.

5. Stufe: Orientierung am Gesellschaftsvertrag

Das rationale Individuum geht von einer der Gesellschaft vorgeordneten Perspektive aus.

Im Bewusstsein der Relativität persönlicher und soziokultureller Wertungen wird ein Verfahren der Konsensbildung gefordert, das die Verletzung von allgemeinen Individualrechten vermeidet und gleichwohl dem Willen und Wohl der Mehrheit dient („Der größtmögliche Nutzen für die größtmögliche Zahl“). Daraus folgt eine kontraktmäßige Orientierung am Gesellschaftsvertrag (Sozialvertragsdenken), aber unter Berücksichtigung der Möglichkeit einer angemessenen Veränderung im Sinne vernünftiger Erwägungen des gesellschaftlichen Nutzens. Die Befolgung der gesellschaftlichen Regeln erfolgt letztlich im Interesse der Gerechtigkeit und weil diese Regeln den sozialen Kontrakt ausmachen.

Bestimmte absolute Werte und Rechte – wie Leben und Freiheit – müssen jedoch in jeder Gesellschaft unabhängig von der Meinung der Mehrheit respektiert werden.

6. Stufe: Orientierung an universalen ethischen Prinzipien

Das ist die Perspektive eines „moralischen Standpunktes“, von dem sich alle gesellschaftliche Ordnung herleitet. Das rationale Individuum erkennt das Wesen der Moralität an und geht davon aus, dass jeder Mensch seinen (End-)Zweck in sich selbst trägt und daher nicht bloß als Mittel behandelt und benutzt werden darf. Die Orientierung auf der letzten Stufe erfolgt aufgrund der Gewissensentscheidung des Individuums im Einklang mit selbstgewählten ethischen Prinzipien, die im logischen Zusammenhang stehen und universal gültig sind. Diese ethischen Prinzipien sind nicht konkreter Natur (wie z.B. die Zehn Gebote), sondern sie sind abstrakt. Im Kern geht es um universale Prinzipien der Gerechtigkeit, nach denen alle Menschen gleiche Rechte haben und wonach die Würde des Menschen als individueller Person zu achten ist. Da gesellschaftliche Regeln im allgemeinen nur deshalb gültig sind, weil sie auf diesen Prinzipien beruhen, sind Gesetze, wenn sie gegen diese Prinzipien verstoßen, nicht verbindlich; in diesem Konfliktfall orientiert sich das Individuum an den ethischen Prinzipien.

V.

Kohlberg ging von der transkulturellen Geltung seines Entwicklungsmodells aus. Inzwischen haben empirische Untersuchungen aus fast allen Teilen der Welt seine Theorie weitgehend bestätigt.

Allerdings wird in kleineren traditionellen Kulturen (sog. „face to face“- Gesellschaften) oft nur die Stufe 3 als höchste Entwicklungsstufe erreicht. Bei größerer gesellschaftlicher Komplexität (wie in den Industriestaaten) gelangt man jedoch meist bis zur Stufe 4.

Dagegen wird auf der ganzen Welt die Stufe 5 nur selten und die Stufe 6 von nahezu niemandem erreicht. Kohlberg interpretierte die Stufe 6 später auch nicht mehr empirisch, verwies aber auf geschichtliche Persönlichkeiten (wie z.B. Sokrates), die für ihre ethischen Maxime lebten und starben. Während er sich früher zur Formulierung der abstrakten ethischen Prinzipien der Stufe 6 auf den „Kategorischen Imperativ“ von Kant bezog („Handle so, dass die Maxime deines Handelns jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte“), verwies er später auch auf die Gerechtigkeitstheorie („A Theory of Justice“) von Rawls und auf die „ideale Sprechsituation“ (Diskurstheorie) von Habermas (vgl. Eckensberger in Keller (Hrsg), „Lehrbuch der Entwicklungspsychologie“, 1998, S. 475 if).

Es ist in der Tat beeindruckend, dass Kohlbergs Modell nicht nur mit Kants kategorischem Imperativ, sondern auch mit der wohl bedeutendsten Gerechtigkeitstheorie der Gegenwart (Rawls Fairness-Ethik) und mit der Diskurs-Ethik von Habermas (des meistgelesenen und meistdiskutierten Denkers der „Kritischen Theorie“) kompatibel ist.

John Rawls (1921 – 2002) war der Frage nachgegangen, wie eine Gesellschaft organisiert sein muss, damit ihre Mitglieder fair miteinander umgehen. Er hatte folgendes – an der Theorie des Gesellschaftsvertrags anknüpfendes – Gedankenexperiment vorgeschlagen: Angenommen, eine Gruppe von Menschen könnte noch einmal ganz von vorne anfangen und in einem gemeinsamen Akt die Grundsätze wählen, nach denen eine faire und gerechte Gesellschaft gestaltet werden sollte („Urzustand“), wie würden sie über die Verteilung der Rechte und Pflichten entscheiden, wenn niemand wüsste („Schleier des Nichtwissens“), welchen Platz er künftig in der Gesellschaft einnehmen wird, weder von seinem Status her – wie z.B. seiner Stellung, seiner Herkunft und seinem Besitz – noch von der Verteilung seiner natürlichen Gaben – wie z.B. seiner Intelligenz, seiner Körperkraft und seiner Gesundheit?

Rawls geht davon aus, dass sich von der Vernunft geleitete Menschen für Gerechtigkeitsvorstellungen entscheiden, die die Zufälligkeiten der gesellschaftlichen Verhältnisse einerseits und der natürlichen Begabungen andererseits nicht zu politischen und wirtschaftlichen Vorteilen führen lassen. Er behauptet, dass die Menschen zwei Grundsätze wählen würden: zum einen die Gleichheit der Grundrechte und -pflichten, zum anderen den Grundsatz, dass entstehende soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten nur dann gerecht sind, wenn daraus Vorteile für jedermann entstehen, insbesondere für die schwächsten Mitglieder der Gesellschaft. Mit der Betonung der gemeinschaftlichen Entscheidung der Individuen auf der Grundlage der Vernunft kommt Rawls der Diskurstheorie von Habermas sehr nahe.

Als Ziel der moralischen Entwicklung steht bei Kohlberg – ebenso wie schon bei Kant und nunmehr bei Rawls und Habermas – das mündige Subjekt, das die faktische Verfasstheit der gesellschaftlichen Regeln zutreffend immer auch als Ausdruck der Macht, als Niederschlag und Stütze der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse zu erkennen vermag. Das mündige Subjekt, das das postkonventionelle Niveau (ab Stufe 5) der moralischen Entwicklung erreicht hat, ist in der Lage, diesen faktisch geltenden Regeln die Vernunft als Autorität überzuordnen. Auf dieser Ebene definieren nicht länger die Regeln und Gesetze, was als vernünftig zu gelten hat, sondern umgekehrt wird nun die wertsetzende Vernunft als Maßstab der Bewertung von Regeln und Gesetzen herangezogen.

Vernunft ist dabei keinesfalls im Sinne einer bloß instrumentellen Rationalität zu verstehen, sondern vielmehr als das Vermögen, begründete und begründende ethische Regeln zu setzen. Bestehende gesellschaftliche Regeln können und sollen sich zwar der Vernunft verdanken, müssen es aber nicht und tun es in der Rechtswirklichkeit auch keineswegs immer.

Rawls und Habermas erweitern diese Vorstellung noch um den Aspekt der Intersubjektivität, indem sie als Instanz, in der sich diese regelsetzende Vernunft realisiert, nicht das isolierte Subjekt, sondern den „Akt der Wahl durch die Gruppe“ (Rawls) bzw. den „herrschaftsfreien Diskurs in der Gruppe“ (Habermas) setzen.

VI.

Abschließend stellt sich die Frage, wie eine WEITERENTWICKLUNG der moralischen Urteilsfähigkeit ermöglicht und unterstützt werden kann.

Kohlberg geht davon aus, dass bei entsprechenden Anregungsbedingungen eine positive Entwicklung möglich ist, dass es andererseits aber auch Hemmungsbedingungen gibt, die einer weiteren Entwicklung im Wege stehen. Die moralische Entwicklung baut sich zunächst auf der Intelligenz und dem Bildungsniveau auf. Da das moralische Denken natürlich auch Denken ist, hängt das fortgeschrittene moralische Denken vom fortgeschrittenen logischen Denken ab. Doch die Entwicklung des logischen Denkens ist nur eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für die Entwicklung von Moralität. Es gibt viele Menschen, bei denen das logische Denken wesentlich weiter entwickelt ist als die Moralität.

Für die moralische Entwicklung sind somit weitere Faktoren aus der sozialen Umgebung maßgeblich, insbesondere die der sozialen Erfahrung bzw. der sozialen Perspektive. Kohlberg nennt diese Faktoren „Möglichkeiten zur Rollenübernahme“ und versteht darunter, „dass man Rollen übernimmt, sich die Einstellungen anderer zu eigen macht, sich ihrer Gedanken und Gefühle bewusst und imstande ist, sich selbst an ihre Stelle zu versetzen“ (a.a.O. 5. 362).

In diesem Zusammenhang erleben Mitglieder einer Gruppe oder Institution „diese selbst als in einem bestimmten Stadium moralischer Entwicklung stehend“. Die „moralische Atmosphäre einer Institution“ hat dabei einen grundlegenden Einfluss auf die moralische Entwicklung ihrer Mitglieder. Diese moralische Atmosphäre wird entscheidend durch die „Gerechtigkeitsstruktur“ der Institution geprägt, also die Art und Weise, in der Rechte und Pflichten verteilt sind.

Entsprechende Anregungsbedingungen liegen auch hier in der „Gelegenheit zu einer neuen Rollenübernahme“, darüber hinaus in der „Partizipation an kooperativen Entscheidungen“ und der „offenen Konfrontation mit sozialen Problemen“. Auch die von den Mitgliedern der Institution subjektiv wahrgenommene „Fairness“ der dort geltenden Regeln fördern die Entwicklung der Moralität. Entwicklungshemmend wirken dagegen die „Verleugnung und Verdrängung von Widersprüchen“ sowie eine „mechanisierte und machtorientierte Kommunikation“.

Die ins Auge fallenden Übereinstimmungen mit den Strukturen der deutschen Justiz – sowohl was die fehlenden Anregungsbedingungen als auch was die vorhandenen Hemmungsbedingungen angeht – sind bezeichnend für das niedrige moralische Niveau unseres hierarchisch-autoritären Justizsystems.

Die deutsche Justiz ist fremdbestimmt. Sie wird von einer anderen Staatsgewalt – der Exekutive – gesteuert, an deren Spitze die Regierung steht. Deren Interesse ist primär auf Machterhalt gerichtet. Ein auf Machterhalt gerichtetes Interesse birgt in sich keine Anregungsbedingungen für die Entwicklung richterlicher Moral. Im Gegenteil, sie stellt eine Gefahr dar. Richter sind keine Diener der Macht, sondern Diener des Rechts. Deshalb müssen Richter von Machtinteressen frei sein. In Deutschland sind sie es nicht.

Die „moralische Atmosphäre“ der rechtsprechenden Gewalt wird in Deutschland maßgeblich von der Justizverwaltung bestimmt. Die von der Justizverwaltung verfolgten Machtinteressen der Regierung liegen wie ein Fangnetz über der rechtsprechenden Gewalt. Das subaltern-bürokratische Denken und Handeln der Exekutive lähmt jedes richterliche Engagement. Die quantitätsorientierte Fixierung an Pensen- und Erledigungszahlen hat mit der Richtigkeit und Gerechtigkeit richterlicher Entscheidungen nichts zu tun. Ein Beurteilungs- und Beförderungswesen, in dem die Lüge als Ritual allgemein akzeptiert ist, korrumpiert Menschen und zerstört ihre Moral. Fehlende Selbstverwaltungs- oder Mitbestimmungsmöglichkeiten demotivieren den Einzelnen und verhindern die für die Moralitätsentwicklung notwendige Partizipation an kooperativen Entscheidungen.

Vielleicht ist eine Weiterentwicklung der richterlichen moralischen Urteilsfähigkeit aber auch gar nicht gewollt, führte sie doch (wenn auch erst auf Stufe 5) zu einer „Emanzipation von Autoritäten aller Art“ (s.o.) und damit zur wahren richterlichen Unabhängigkeit.

Schließlich soll noch einmal darauf hingewiesen werden, dass die Entwicklung der Moral nicht verordnet, nicht gelehrt und auch nicht rezepthaft angewandt werden kann. Vielmehr entwickelt sich die moralische Kompetenz des Individuums in einem Interaktionsprozess zwischen der schon von ihm erreichten Stufe der Moralität und den fördernden Rahmenbedingungen der gesellschaftlichen Umwelt (von der stabilen emotionalen Akzeptanz durch die Eltern und Erzieher im Jugendalter bis zur „moralischen Atmosphäre“ in einer Institution und zur Partizipation an kooperativen Entscheidungen im Erwachsenenalter). Letztlich setzt die moralische Weiterentwicklung des Individuums somit demokratische Strukturen der Gesellschaft voraus!

Deshalb gilt es, sowohl auf der gesellschaftlichen Ebene im Allgemeinen als auch auf der institutionellen Ebene der Justiz im Besonderen, an der Weiterentwicklung demokratischer Strukturen zu arbeiten. Es ist zu hoffen, dass sich mehr und mehr Richterinnen und Richter dazu moralisch veranlasst sehen oder sogar moralisch verpflichtet fühlen.

VII.

Die Neue Richtervereinigung hat sich – offenbar als erster Richterverband in Deutschland – an das Thema herangetastet. Gleichzeitig hat sie dabei auf die aktuellen Vorgaben der internationalen Diskussion mit einer ersten STELLUNGNAHME reagiert:

„Die NRV hat sich auf der XVII. Mitwirkungskonferenz der Fachgruppe ,,Justizstrukur und Gerichtsverfassung“ mit Fragen richterlicher Ethik befasst.

Nach unserer Überzeugung entsprechen „die Bangalore Prinzipien richterlichen Verhaltens“ mit ihrer erheblichen Einschränkung der Bürgerrechte und ihrer starken Reglementierung des Privatlebens nicht dem Richterbild der NRV.

Zudem ist die Verknüpfung von Verstößen gegen Ethikregeln mit disziplinarischen Folgen abzulehnen, weil durch ein System von Strafen kein ethisches Verhalten verinnerlicht werden kann. Es gilt vielmehr, ein eigenes Berufsethos durch einen DISKURS innerhalb der Richterschaft (fort-) zu entwickeln. Durch eine entsprechende Selbstreflexion wird eine fortlaufende Sensibilisierung der Richterinnen und Richter eintreten, die zu einer Übernahme selbstgewählter ethischer Prinzipien führt.

In den Gerichten sind die Präsidien und die Richterräte aufgefordert, mit den Kolleginnen und Kollegen Fragen des Berufsethos zu diskutieren. Anlass hierzu geben allerorts anzutreffende Probleme, z.B. bei Eingriffen der Justiz- und Gerichtsverwaltung, bei der Zusammenarbeit der Mitarbeiter an einem Gericht, bei der Geschäftsverteilung.

Vor allem sind auch die Berufsverbände aufgerufen, den Diskussionsprozess über das Berufsethos innerhalb der Mitgliedschaft voranzutreiben. Die Neue Richtervereinigung will insoweit einen Anfang machen.“

 

Zum Anfang dieser Seite

Zur Startseite