Wer soll herrschen?

 

„…. Wer soll herrschen? Diese Frage verlangt nach einer autoritären Antwort: etwa »die Besten« oder »die Weisesten« oder »das Volk« oder »die Mehrheit«.

Man sollte eine ganz andere Fragestellung an ihre Stelle setzen, etwa: Was können wir tun, um unsere politischen Institutionen so zu gestalten, daß schlechte oder untüchtige Herrscher (die wir natürlich zu vermeiden suchen, aber trotzdem nur allzu leicht bekommen können) möglichst geringen Schaden anrichten? ….“

Aus: Sir Karl R. Popper, „Erkenntnis ohne Autorität”  in: Karl Popper Lesebuch, J .C.B. Mohr Tübingen 1995 S. 32:

 

Karl_Popper

 

 

 

 

   Sir Karl R. Popper

 

 

„Wer soll herrschen?“ Ausschnitt aus einem im Juni 1989 in St. Gallen gehaltenen Vortrag. Abgedruckt in: Karl R. Popper „Alle Menschen sind Philosophen“ Piper-Verlag 2002 (ISBN 3-492-04462-x). Der ungekürzte Vortrag (Titel „Freiheit und intellektuelle Verantwortung“) wurde in dem im Piper Verlag erschienenen Sammelband „Alles Leben ist Problemlösen“ veröffentlicht.

 

Die Zukunft ist weit offen. Sie hängt von uns ab; von uns allen. Sie hängt davon ab, was wir und viele andere Menschen tun und tun werden; heute und morgen und übermorgen. Und was wir tun und tun werden, das hängt wiederum von unserem Denken ab; und von unseren Wünschen, unseren Hoffnungen, unseren Befürchtungen. Es hängt davon ab, wie wir die Welt sehen; und wie wir die weit offenen Möglichkeiten der Zukunft beurteilen.

Das bedeutet für uns alle eine große Verantwortung. Und die Verantwortung wird noch größer, wenn wir uns der Wahrheit bewußt werden, daß wir nichts wissen; oder daß wir so wenig wissen, daß wir berechtigt sind, dieses Wenige als »nichts« zu bezeichnen. Denn es ist nichts im Vergleich zu dem, was wir alles wissen müßten, um die richtigen Entscheidungen zu treffen.

Der erste, der das sah, war Sokrates. Er sagte, daß ein Staatsmann weise sein soll – weise genug, um zu wissen, daß er nichts weiß. Auch Platon sagte, daß ein Staatsmann, und vor allem ein König, weise sein soll; aber er meinte damit etwas ganz anderes als Sokrates. Er meinte, daß die Könige Philosophen sein und daß sie bei ihm, bei Platon, in die Schule gehen sollten, um die Platonische Dialektik zu lernen – etwas höchst Gelehrtes und Kompliziertes; oder noch besser, daß die vielwissenden und gelehrten Philosophen, wie zum Beispiel er selbst, Könige werden und die Welt regieren sollten. Diesen Vorschlag legte Platon dem Sokrates in den Mund, was zu einigen Mißverständnissen führte. Die Philosophen waren ganz begeistert zu hören, daß sie Könige werden sollten, und der ungeheure Unterschied zwischen der Sokratischen Forderung und der Platonischen Forderung an den Staatsmann verschwand im Nebel der philosophischen Dialektik. Daher möchte ich den Unterschied nochmals klarmachen: Die Formel »Der Staatsmann soll weise sein« bedeutet für Platon einen Herrschaftsanspruch der gelehrten Philosophen – und daraus wurde der Herrschaftsanspruch der Gebildeten, der Intellektuellen, der »Elite« . Im krassen Gegensatz zu Platon bedeutet dieselbe Formel » Der Staatsmann soll weise sein« für Sokrates, daß der Staatsmann wissen sollte, wie wenig er weiß; und deshalb sollte er in seinen Ansprüchen äußerst bescheiden sein. So sieht er seine große Verantwortung für Krieg und Frieden, und er weiß, was für Unheil er anrichten kann. Er weiß, wie wenig er weiß. »Erkenne dich selbst!« ruft Sokrates, »erkenne dich, und gestehe dir ein, wie wenig du weißt!« (Vgl. Xenophons » Memorabilia« , Kapitel IX, 6.) Das ist die Sokratische Haltung, die Sokratische Weisheit. »Erkenne dich selbst, gestehe dir deine Unwissenheit ein!« Der Platoniker ist zwar gewöhnlich kein König, aber immer der allwissende Parteiführer; und obwohl gewöhnlich die Partei, die er führt, nur aus ihm selbst besteht, so sind doch, umgekehrt, fast alle Parteiführer, und insbesondere die Führer der aggressiven Parteien, und die Führer der erfolgreichen Parteien, Platoniker. Denn sie sind ja jene besten und am besten informierten und daher weisesten Menschen, von denen Platon lehrt, daß sie unsere Herrscher sein sollen.

»Wer soll herrschen?« ist die Grundfrage der Platonischen politischen Philosophie. Und Platons Antwort ist: »Der Beste und gleichzeitig Weiseste!« Auf den ersten Blick scheint diese Antwort unvermeidlich und offenbar richtig zu sein. Was aber, wenn der Beste und Weiseste sich nicht für den Besten und Weisesten hält und daher die Herrschaft ablehnt? Das ist es aber, was ein Sokratiker vom Besten und Weisesten erwarten würde! Ein Sokratiker würde wohl auch denken, daß ein Mann, der sich für den Besten und Weisesten hält, größenwahnsinnig sein muß und daher sicher weder gut noch weise sein kann (vgl. die zitierte Stelle bei Xenophon).

Offenbar ist die Frage »Wer soll herrschen?« eine gänzlich falsch gestellte Frage. Dennoch wurde sie bis heute immer wieder gestellt und immer ähnlich beantwortet, wie es Platon tat. Lange war die Antwort: der von den Soldaten gewählte Kaiser, denn nur er kann die Macht haben, sich an der Macht zu halten. Später hieß es: der legitime Prinz von Gottes Gnaden. Noch Marx fragte: Wer soll die Macht haben, die dibtatorische Macht? Die Proletarier oder die Kapitalisten? Antwort: die guten, die klassenbewußten Proletarier. Sicher nicht die bösen, selbstsüchtigen Kapitalisten. Und auch sicher nicht die Lumpenproletarier! Die müssen sich, nach Marx, damit begnügen, beschimpft zu werden. (Bei uns sind sie verschwunden. )

Auch die meisten Theoretiker der Demokratie beantworten noch immer die Platonische Frage »Wer soll herrschen?« Ihre Theorie besteht darin, die seit dem Mittelalter selbstverständliche Antwort »der legitime Prinz von Gottes Gnaden« zu ersetzen durch: »das Volk von Gottes Gnaden« , wobei die Worte »von Gottes Gnaden« weggelassen werden oder ungefähr durch »das Volk, von des Volkes Gnaden« ersetzt werden. So heißt es schon in Rom: Vox populi vox dei; zu deutsch: Die Stimme des Volkes ist die Stimme Gottes.

Immer wieder sehen wir die Platonische Frage »Wer soll herrschen?« , sie spielt noch immer eine große Rolle in der politischen Theorie, in der Theorie der Legitimität, und insbesondere in der Theorie der Demokratie. Es wird gesagt, daß eine Regierung das Recht hat zu herrschen, wenn sie legitim ist, das heißt, gemäß den Regeln der Konstitution von einer Mehrheit des Volkes oder seiner Vertreter gewählt wurde. Aber wir dürfen nicht vergessen, daß Hitler auf legitime Weise an die Macht kam und daß das Ermächtigungsgesetz, das ihn zum Diktator machte, von einer parlamentarischen Mehrheit beschlossen wurde. Das Legitimitätsprinzip reicht nicht hin. Es ist eine Antwort auf die Platonische Frage »Wer soll herrschen?« Wir müssen die Frage selbst ändern.

Wir haben gesehen, daß auch das Prinzip der Volksherrschaft eine Antwort auf die Platonische Frage ist. Es ist ein gefährliches Prinzip. Eine Mehrheitsdiktatur kann für die Minderheit fürchterlich sein.

Ich habe vor 44 Jahren ein Buch veröffentlicht, »The Open Society and Its Enemies« zu deutsch »Die offene Gesellschaft und ihre Feinde« . Es war als mein Beitrag zum Zweiten Weltkrieg geschrieben. In diesem Buch machte ich den Vorschlag, Platons Frage »Wer soll herrschen?« durch eine radikal verschiedene Frage zu ersetzen; durch die Frage »Wie können wir die Konstitution des Staates so gestalten, daß wir die Regierung ohne Blutvergießen loswerden können?«

Diese Frage legt die Betonung nicht auf die Art der Einsetzung der Regierung, sondern auf die Möglichkeit ihrer Absetzung.

Das Wort »Demokratie« , das »Volksherrschaft« bedeutet, ist, leider, eine Gefahr. Jedes Mitglied des Volkes weiß, daß es nicht herrscht, und fühlt deshalb, daß die Demokratie ein Schwindel ist. Darin liegt die Gefahr. Es ist wichtig, daß man schon in der Schule lernt, daß der Name »Demokratie« seit der Athenischen Demokratie der traditionelle Name für eine Verfassung ist, die eine Diktatur, eine »Tyrannis« verhindern soll. Die Diktatur, die Tyrannis, ist das Schlimmste, wie wir eben wieder in China gesehen haben. Man kann sie ohne Blutvergießen nicht loswerden, aber gewöhnlich auch nicht mit Blutvergießen: Die Diktatoren sind heutzutage wohl immer zu stark, wie wir auch schon beim Aufstandsversuch gegen Hitler vom 20. Juli 1944 sehen konnten.

Aber jede Diktatur ist unmoralisch. Jede Diktatur ist moralisch böse. Das ist das erste, das moralische Grundprinzip für die Demokratie als jene Staatsform, in der die Regierung ohne Blutvergießen abgesetzt werden kann. Die Diktatur ist moralisch böse, weil sie die Staatsbürger dazu verurteilt, gegen ihr besseres Wissen und Gewissen, gegen ihre moralische Überzeugung mit dem Übel mitzuarbeiten, zumindest durch ihr Schweigen. Sie enthebt den Menschen der menschlichen Verantwortung, ohne die er nur ein halber, nur ein hundertstel Mensch ist. Sie macht aus einem jeden Versuch, seine menschliche Verantwortung zu tragen, einen Selbstmordversuch.

Es kann geschichtlich gezeigt werden, daß schon die Athenische Demokratie, zumindest bis Perikles und Thukydides, nicht so sehr eine Volksherrschaft war als ein Versuch, eine Tyrannis um jeden Preis zu vermeiden. Der Preis war hoch, vielleicht zu hoch, und wurde nach weniger als 100 Jahren abgeschafft. Der Preis war das oft mißverstandene Scherbengericht, durch das jeder Bürger, wenn er zu populär wurde, eben wegen seiner Popularität verbannt werden konnte und sollte. So wurden die bewährtesten Staatsmänner verbannt, wie Aristides und insbesondere Themistokles. Es ist ein Unsinn zu sagen, daß Aristides verbannt wurde, weil er dem Themistokles im Wege war oder weil sein Beiname »der Gerechte« seine Mitbürger eifersüchtig machte. Die Sache liegt ganz anders: Der Beiname zeigt, daß Aristides populär war, er war zu populär, und die Funktion des Scherbengerichtes war es eben, einen populistischen Diktator nicht aufkommen zu lassen. Das allein war der Grund seiner Verbannung, ebenso wie der des Themistokles.

Perikles selbst schien sich darüber klar zu sein, daß die Athenische Demokratie keine Volksherrschaft war und daß es eine Volksherrschaft nicht geben kann. Denn er sagte in seiner großen Rede, die wir bei Thukydides lesen können: »Obwohl nur einige wenige eine Politik entwerfen können, so sind wir doch alle fähig, über sie ein Urteil zu fällen.« Das heißt aber: Wir können nicht alle regieren und dirigieren, aber wir alle können über die Regierung zu Gericht sitzen, wir können als Geschworene fungieren.

Genau das sollte, nach meiner Ansicht, der Wahltag sein. Nicht ein Tag, der die neue Regierung legitimiert, sondern ein Tag, an dem wir über die alte Regierung zu Gericht sitzen. Der Tag, an dem sich die Regierung verantworten muß.

Ich möchte jetzt ganz kurz zeigen, daß der Unterschied, den ich hier betone, der Unterschied zwischen der Demokratie als Volksherrschaft und der Demokratie als Volksgericht, auch praktische Folgen hat: Er ist keineswegs nur verbal. Das sieht man daraus, daß die Idee der Volksherrschaft dazu führt, eine proportionale Volksvertretung zu befürworten. Jede Meinungsgruppe, jede Partei, auch ziemlich kleine Parteien, sollen vertreten sein, damit die Volksvertretung ein Spiegel des Volkes wird und damit die Idee einer Volksregierung nach Möglichkeit verwirklicht wird. Ich habe sogar den fürchterlichen Vorschlag gelesen, daß jeder Bürger und jede Bürgerin mit einem elektrischen Druckknopf über jeden Punkt, der von der Volksvertretung vor dem Bildschirm diskutiert wurde, direkt abstimmen sollte. Außerdem wird gesagt, daß vom Standpunkt der Demokratie als Volksregierung die Bürgerinitiative sehr begrüßt werden muß.

Ganz anders sieht die Sache aus von dem von mir verteidigten Standpunkt der Demokratie als Volksgericht. Ich sehe die Vielzahl der Parteien als ein Unglück an; und daher auch das Proporzwahlrecht. Denn die Vielzahl der Parteien führt zu Koalitionsregierungen, in denen niemand die Verantwortung vor dem Volk als Gerichtshof trägt, da alles ein unvermeidbarer Kompromiß ist. Außerdem wird es ganz unsicher, ob man eine Regierung loswerden kann, denn sie braucht ja nur einen neuen kleinen Koalitionspartner zu finden, um weiterregieren zu können. Wenn es wenige Parteien gibt, dann sind die Regierungen eher Mehrheitsregierungen, und ihre Verantwortung ist klar und deutlich. Und ich sehe keinen Wert darin zu versuchen, die Meinungen der Bevölkerung proportional in der Volksvertretung abzuspiegeln, und schon gar nicht in der Regierung. Das führt zur Unverantwortlichkeit der Regierung, denn der Spiegel kann nicht seinem Original gegenüber verantwortlich sein.

Aber der vielleicht stärkste Einwand gegen die Theorie der Volksherrschaft ist, daß sie eine irrationale Ideologie, einen Aberglauben fördert: den autoritären und relativistischen Aberglauben, daß das Volk (oder die Majorität) nicht Unrecht haben kann und nicht Unrecht tun kann. Diese Ideologie ist unmoralisch und muß abgelehnt werden. Wir wissen von Thukydides, daß die Athenische Demokratie (die ich in vielem bewundere) auch verbrecherische Beschlüsse gefaßt hat. Sie überfiel (wenn auch nicht ohne Warnung) die neutrale Inselstadt Melos, tötete alle Männer und verkaufte alle Frauen und Kinder auf den großen Sklavenmärkten. Dazu war die Athenische Demokratie fähig.

Und das frei gewählte deutsche Parlament der Weimarer Republik war fähig, Hitler durch das Ermächtigungsgesetz auf legitimem Weg zum Diktator zu machen. Obwohl Hitler in Deutschland nie eine freie Wahl gewonnen hat, feierte er doch in Österreich nach dem gewaltsamen Anschluß einen ungeheuren Wahlsieg.

Wir sind alle fehlbar, und das Volk, oder jede andere Gruppe von Menschen, ist es genauso. Und wenn ich dafür spreche, daß ein Volk seine Regierung absetzen kann, so nur deshalb, weil ich keine bessere Methode kenne, die Tyrannis zu vermeiden. Auch die Demokratie als Volksgericht, wie ich sie verteidige, ist alles eher als fehlerlos. Für sie gilt Winston Churchills ironischer Ausspruch, der sagte: »Die Demokratie ist die schlechteste aller Regierungsformen, mit der alleinigen Ausnahme aller anderen Regierungsformen.«

Um diesen Punkt meiner Ausführungen zusammenzufassen: Der Unterschied zwischen den beiden Ideen, der Demokratie als Volksherrschaft und der Demokratie als Volksgericht – oder als Instrument zur Vermeidung einer Regierung, die man nicht loswerden kann, also einer Tyrannis -, ist keineswegs verbal, sondern hat wichtige praktische Folgen; er ist auch für die Schweiz relevant. Dennoch wird im Unterricht, in den Volksschulen und Gymnasien, soviel ich weiß, noch sehr oft die verderbliche und ideologische Theorie der Volksherrschaft vertreten, anstelle der viel bescheideneren und realistischen Theorie der Vermeidung der moralisch untragbaren und unerträglichen Diktatur.

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Die freundliche Genehmigung für die Veröffentlichung dieses Auszuges erteilte Frau Melitta Mew (The Estate of Sir Karl Popper) als Inhaberin des Copyrigths.

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Leben und Werk von Sir Karl R. Popper

 

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