§ 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) – Amtliche Begründung

Aus dem Text:

„…. Nur bei völliger Losgelöstheit von der Verwaltung kann die Verwaltungsgerichtsbarkeit ihre vornehmste Aufgabe, eben diese Verwaltung zu kontrollieren, erfüllen. ….“

Verhandlungen des Deutschen Bundestages

3. Wahlperiode

Anlagen
zu den stenographischen Berichten

Band 55
Drucksachen 1 bis 130

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Deutscher Bundestag
Drucksache 55
3. Wahlperiode

Bundesrepublik Deutschland
Der Bundeskanzler Bonn, den 5. Dezember 1957
4 ‚ 20401 ‚ 4701/57

An den Herrn
Präsidenten des Deutschen Bundestages

Hiermit übersende ich den von der Bundesregierung beschlossenen

Entwurf einer Verwaltungsgerichtsordnung

(VwGO)

sowie den

Entwurf eines Gesetzes über die Beschränkung der Berufung im verwaltungsgerichtlichen Verfahren

nebst Begründung (Anlage I) mit der Bitte, die Beschlußfassung des Deutschen Bundestages herbeizuführen.

Der Bundesrat hat in seiner 185. Sitzung vom 29. November 1957 gemäß Artikel 76 Abs. 2 des Grundgesetzes beschlossen, zu den Entwürfen die sich aus der Anlage 2 ergebenden Änderungen vorzuschlagen.

Die Auffassung der Bundesregierung zu der Stellungnahme des Bundesrates ist in der Anlage 3 dargestellt.

Der Stellvertreter des Bundeskanzlers
Ludwig Erhard

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Anlage I

Entwurf einer Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO)
Teil I
Gerichtsverfassung

1. ABSCHNITT
Gerichte

§ 1 Die Verwaltungsgerichtsbarkeit wird durch unabhängige von den Verwaltungsbehörden getrennte Gerichte ausgeübt.

§ 2……

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Zu § 1

“ Verwaltungsgerichtsbarkeit“ ist hier im weitesten Sinn zu verstehen. Sie umfaßt nicht nur die Gerichtsbarkeit über die allgemeine Verwaltung, sondern auch die der Sonderverwaltungen. Soweit für letztere nicht ein besonderer Rechtsweg eröffnet ist, oder soweit ein etwa dort vorgesehenes Verfahren nicht den Voraussetzungen des § 1 gerecht wird, insbesondere weil die Unabhängigkeit der zur Entscheidung berufenen Organe nicht gewährleistet ist und sie daher nicht als Gerichte anzusehen sind, ist der Rechtsweg zu den allgemeinen Verwaltungsgerichten eröffnet. Damit soll sichergestellt werden, daß für alle Gebiete der Verwaltung auch wirklich die Entscheidung echter Gerichte nachgesucht werden kann. Dies ist die notwendige Folgerung, die aus Artikel 19 Abs. 4 GG in Verbindung mit Artikel 92 und 97 GG zu ziehen ist. Artikel 19 Abs. 4 eröffnet den Rechtsweg gegen alle Rechtsverletzungen der öffentlichen Gewalt; Artikel 92 legt die rechtsprechende Gewalt ausschließlich in die Hand der Richter, und Artikel 97 bestimmt, daß die Richter unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen sind. Soweit in Verfahren, die für Sonderverwaltungen eingeführt werden, diese Voraussetzungen nicht erfüllt werden und deshalb dem Erfordernis des Grundgesetzes nach Rechtsschutz gegenüber der öffentlichen Gewalt nicht genügt wird, sind nunmehr die Gerichte der allgemeinen Verwaltungsgerichtsbarkeit zuständig. Soweit es sich um öffentlich-rechtliche Streitigkeiten handelt, wird damit die in Artikel 19 Abs. 4 des Grundgesetzes vorgesehene subsidiäre Zuständigkeit der Zivilgerichte ausgeschlossen und dem allgemeinen Grundsatz entsprochen, daß alle öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten vor die Gerichte der Verwaltungsgerichtsbarkeit gehören.

Das Erfordernis der richterlichen Unabhängigkeit ist in Artikel 97 GG festgelegt; sie muß sowohl in sachlicher wie in persönlicher Beziehung gegeben sein.

Die Trennung von den Verwaltungsbehörden stellt einmal klar, daß Verwaltungsgerichtsbarkeit nicht mehr Verwaltungsselbstkontrolle, sondern im Sinne der Gewaltenteilung echte Gerichtsbarkeit ist, daß sie also nicht mit der Exekutive verquickt werden darf. Andererseits aber steht dieses Erfordernis im engsten Zusammenhang mit dem Gebot der Unabhängigkeit der Richter. Nur bei völliger Losgelöstheit von der Verwaltung kann die Verwaltungsgerichtsbarkeit ihre vornehmste Aufgabe, eben diese Verwaltung zu kontrollieren, erfüllen.

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Zur Verdeutlichung der deutschen Realität im Jahre 2014:

Stellen Sie sich vor :

Schalke 04 soll gegen Bayer Leverkusen spielen. Am Tag vor dem Bundesligaspiel wird bekannt:

Der vorgesehene Schiedsrichter ist Angestellter des Bayer-Konzerns.

Würden die Anhänger von Schalke 04, würden überhaupt lebenserfahrene Fußballfans noch an die innere Unabhängigkeit eines Schiedsrichters glauben, der bei dem Bayer-Konzern auf der Gehaltsliste steht?

Stellen Sie sich vor :

Ein Bürger klagt vor dem Verwaltungsgericht gegen den Freistaat Sachsen. Ein Tag vor der mündlichen Verhandlung wird ihm bekannt:

Zum einen: Der Wirtschaftsminister, der den angefochtenen Verwaltungsakt politisch zu verantworten hat, sitzt mit dem Justizminister nicht nur als Regierungsmitglied, sondern auch als Parteifreund in einem Boot. Der Erfolg ihrer Partei ist ihr persönliches Interesse.
Zum anderen: Durch sächsisches Landesgesetz ist der Parteifreund des Wirtschaftsministers – der Justizminister – zum Dienstvorgesetzten der für die Entscheidung zuständigen Verwaltungsrichter bestimmt worden. Der Justizminister hat das letzte Wort über den Inhalt der Dienstzeugnisse der Richter, er entscheidet über ihre Karrieren und insoweit auch über ihren Lebensweg und er hat die Macht, in anhängigen Gerichtsverfahren die „Sachbehandlung“ durch die Verwaltungsrichter in Geschäftsprüfungen zu überwachen, vielleicht sogar in dem Verfahren des Klägers, ohne dass dieser jemals etwas davon erfährt.

Würde der Kläger vor dem Verwaltungsgericht, würden überhaupt lebenserfahrene Bürger noch an die innere Unabhängigkeit von Richtern glauben, die in einer solchen äußeren Abhängigkeit von der gegnerischen Prozesspartei arbeiten ?

Eine historische Anmerkung :

Im Jahre 1941 wurde die deutsche Verwaltungsgerichtsbarkeit einer Regierungsaufsicht unterstellt (Führer-Erlaß vom 3. 4. 1941 = Reichsgesetzblatt I S. 201: Erste Durchführungsverordnung = Reichsgesetzblatt I S. 224).
Das auf die Führung des nationalsozialistischen Staates zugeschnittene Recht wurde nach Kriegsende übernommen und gilt im Bund und in Gesetzen aller Bundesländer bis heute fort.