Gewaltenteilung in Deutschland – Idee und Wirklichkeit

Unabhängigkeit der Justiz – Diese Pflicht der Gewaltenteilung des Grundgesetzes ist bis heute staatsorganisatorisch unerfüllt.

Inhalt:

1.   Gewaltenteilung“ – Worum geht es?
2.   Woher kommt die Idee?
3.   Was steht im Grundgesetz?
4.   Ist die Gewaltenteilung in Deutschland auch staatsorganisatorisch verwirklicht?
5.   Verfassungstext und Wirklichkeit sind verschiedene Dinge
6.   Der Wille der Mütter und Väter des Grundgesetzes – Die nicht erfüllte Verfassung
7.   Warum der Widerstand gegen eine Änderung der Staatsorganisation?
8.   Die Forderung des Europarats
9.   Zur Macht in Deutschland
10. Fazit

„G  E  W  A  L  T  E  N  T  E  I  L  U  N  G „

1. Worum geht es?

Die Gewaltenteilung will Macht beschränken, indem nicht alle Staatsmacht bei einem Staatsorgan – z.B. der Regierung – gebündelt ist. Die Staatsgewalt soll in den Händen verschiedener, einander gleichgeordneter Machtträger liegen. Die wichtigste Sicherung vor einer allmählichen Konzentration der verschiedenen Gewalten in einer Hand besteht darin, den Amtsinhabern der verschiedenen Gewalten die nötigen verfassungsmäßigen Mittel und persönlichen Anreize an die Hand zu geben, Übergriffe der anderen abzuwehren.

Dies soll

  • die Freiheit der Menschen sichern

und

  • zu objektiveren und besseren Sachentscheidungen führen.

Die Gewaltenteilung soll Machtausübung staatsorganisatorisch begrenzen, also unabhängig davon, welche Personen gerade Macht haben.

Die Aufteilung der Staatsgewalt soll ein Bollwerk sein – auch und gerade für Zeiten, in denen einmal (wieder) keine klugen und verantwortungsbereiten Menschen Regierungsmacht haben könnten. Der Staat soll so organisiert sein, daß schlechte oder untüchtige Herrscher (die wir natürlich zu vermeiden suchen, aber trotzdem nur allzu leicht bekommen können) möglichst geringen Schaden anrichten.

(Ein Schiffbruch: Wäre die „Titanic“  so sicher geplant und gebaut gewesen, dass sie mit einem Eisberg hätte kollidieren können ohne gleich zu sinken und wäre sie nicht (wegen behaupteter Unsinkbarkeit?) mit zu wenig Rettungsbooten ausgerüstet gewesen, so hätten die Fehler der Schiffsführung weniger oder gar keine Menschenleben gekostet – Wie sicher ist das Schiff „Bundesrepublik Deutschland“ geplant (=Verfassungstext), gebaut und ausgerüstet (=Wirklichkeit)?)

Die Gewaltenteilung ist ein Schlussstein im Gewölbe des demokratischen Rechtsstaats. Ohne den Schlussstein kann ein Gewölbe einstürzen.

2. Woher kommt die Idee?

(1748) Der französische Philosoph und Staatstheoretiker Charles de Montesquieu in seinem Buch Vom Geist der Gesetze (11. Buch 4. Kapitel):

Die politische Freiheit ist nur unter maßvollen Regierungen anzutreffen. Indes besteht sie selbst in maßvollen Staaten nicht immer, sondern nur dann, wenn man die Macht nicht missbraucht. Eine ewige Erfahrung lehrt jedoch, dass jeder Mensch, der Macht hat, dazu getrieben wird, sie zu missbrauchen. Er geht immer weiter, bis er an Grenzen stößt. Wer hätte das gedacht: Sogar die Tugend hat Grenzen nötig. Damit die Macht nicht mißbraucht werden kann, ist es nötig, durch die Anordnung der Dinge zu bewirken, daß die Macht die Macht bremse.“

(1787) Der Gründervater und vierte Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika James Madison in den Federalist Papers:

„Wenn die Menschen Engel wären, so brauchten sie keine Regierung. Wenn Engel über die Menschen herrschten, dann bedürfte es weder innerer noch äußerer Kontrollen der Regierenden. Entwirft man jedoch ein Regierungssystem, in dem Menschen über Menschen herrschen, dann besteht die große Schwierigkeit darin: es zuerst zur Herrschaft zu befähigen, und es dann darauf zu verpflichten, sich selbst unter Kontrolle zu halten. Die Abhängigkeit vom Volk ist zweifellos das beste Mittel, staatlicher Macht Schranken zu setzen; aber die Menschheit hat aus Erfahrung gelernt, daß zusätzliche Vorkehrungen nötig sind.“

(1798) Der deutsche Philosoph Immanuel Kant (in Metaphysik der Sitten, Rechtslehre):

Also sind es drei verschiedene Gewalten (potestas legisIatoria, executoria, iudiciaria), wodurch der Staat (civitas) seine Autonomie hat, d. i. sich selbst nach Freiheitsgesetzen bildet und erhält. – In ihrer Vereinigung besteht das Heil des Staats (salus reipublicae suprema lex est); worunter man nicht das Wohl der Staatsbürger und ihre Glückseligkeit verstehen muß; denn die kann vielleicht (wie auch Rousseau behauptet) im Naturzustande, oder auch unter einer despotischen Regierung, viel behaglicher und erwünschter ausfallen: sondern den Zustand der größten Übereinstimmung der Verfassung mit Rechtsprinzipien versteht, als nach welchem zu streben uns die Vernunft durch einen kategorischen Imperativ verbindlich macht.

(1887) Lord Acton:

„Macht korrumpiert, absolute Macht korrumpiert absolut“

Ausgangspunkt der Gewaltenteilungsidee ist die Einsicht in die unvollkommene Natur des Menschen.

3. Was steht im Grundgesetz?

Die Artikel 20 und 92 Grundgesetz nennen drei Staatsgewalten, nämlich a. die Gesetzgebung, b. die vollziehende Gewalt und c. die Rechtsprechung oder rechtsprechende Gewalt.

Die Bundeszentrale für politische Bildung stellt die im Wortlaut des Grundgesetzes niedergelegte Idee einer Gewaltenteilung in Bund und Ländern wie folgt grafisch dar (Fassung Juli 2020):

Die Dreiteilung der Staatsgewalt ist im Wortlaut des Grundgesetzes festgeschrieben (zentral in Art. 20 GG).

4. Ist die Gewaltenteilung in Deutschland auch staatsorganisatorisch verwirklicht?

Verfassungen sind zunächst nur Worte auf Papier. Um nachhaltig wirksam zu werden, müssen sie in die Wirklichkeit transformiert werden. Ist die Gewaltenteilung in Deutschland staatsorganosatorisch verwirklicht?

Die nachstehenden Grafiken geben eine Antwort. Sie stellen beispielhaft die Staatsorganisationen Spaniens und Deutschlands einander gegenüber um aufzuzeigen, welche staatlichen Strukturen möglich sind und wie sie konkret aussehen.

spanien

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deutschland

(© Udo Hochschild – gewaltenteilung.de)

Die vorstehenden Bilder verdeutlichen

a. zum einen – am Beispiel Spaniens – die Umsetzung des Gewaltenteilungsprinzips durch

  • die rechtliche Aufteilung der Staatsgewalt in Rechtsprechung (Judikative), Gesetzgebung (Legislative) und vollziehende Gewalt (Exekutive) in der Verfassung

und

  • ihre tatsächliche Übertragung auf drei verschiedene, einander gleichgeordnete Träger,

b. zum anderen – am Beispiel Deutschlands (auf Länderebene) – die Umsetzung des Gewaltenteilungsprinzips durch die

  • rechtliche Aufteilung der Staatsgewalt in Rechtsprechung (Judikative), Gesetzgebung (Legislative) und vollziehende Gewalt (Exekutive) in der Verfassung (zentral in Art 20 Grundgesetz)

unter Verzicht  auf

  •  ihre tatsächliche Übertragung auf drei verschiedene, einander gleichgeordnete Träger.

Darüber hinaus zeigen die Bilder, dass spanische Richter unmittelbarer demokratisch legitimiert sind als ihre deutschen Kollegen.

Zu a.:

Spanien orientierte sich nach dem Ende der Diktatur in seiner Verfassung vom 29. Dezember 1978 an dem Vorbild Italiens, das in seiner Verfassung vom 27. Dezember 1947 aus seiner diktatorischen Vergangenheit Lehren gezogen und die Judikative aus den Fesseln der Exekutive herausgelöst hatte. Bis auf Deutschland, Österreich und die Tschechische Republik sind inzwischen alle Mitgliedsländer der Europäischen Union in jeweils landesspezifischen Modifikationen dem italienischen Vorbild eines organisatorisch dreigliedrigen Staatsaufbaus gefolgt, zuletzt Großbritannien in einer Reihe von Reformen zwischen 2003 und 2008.

In Spanien ist die Gewaltenteilung ein Strukturelement der Staatsorganisation. Die Gerichte unterstehen nicht der Regierung – sie werden von einem eigenständigen dritten Machtträger verwaltet.

Zu b.:

Anders in Deutschland:

Zwar hat das Grundgesetz eine Dreiteilung der Staatsgewalt vorgesehen, Politik und Rechtswissenschaft verteidigten jedoch die 1949 vorgefundene, aus dem Kaiserreich überkommene organisatorische Abhängigkeit der Justiz. So blieb es zum heutigen Tage.

Deutschland kennt nur zwei organisatorisch voneinander unabhängige Träger der Staatsgewalt, die Legislative und die Exekutive. Die deutsche Judikative ist nach wie vor ein staatsorganisatorischer Bestandteil der Exekutive (Ausnahme: das selbstverwaltete Bundesverfassungsgericht). Die Justizminister arbeiten in Bund und Ländern ‘unter dem Dach einer Regierung, ihren Mehrheitsentscheidungen ausgesetzt und zur Regierungsloyalität verpflichtet’ .

 

Man hat sich daran gewöhnt. Gewohntes fällt nicht auf.

Justiz ist in Deutschland vor allem Ländersache. Weniger als 500 Bundesrichtern stehen mehr als 20.000 Landesrichter gegenüber. Weder im Bund noch in den Ländern ist eine staatsorganisatorische Umsetzung des Gewaltenteilungsprinzips erfolgt.

Beispiel Bayern:

– Eine politische Partei stellt die Mehrheit der Abgeordneten und dominiert das Parlament.
– Dieselbe Partei stellt die Regierung und beherrscht die Exekutive.
Der Justizapparat untersteht der Regierung:

  1. Der Justizminister ist für die Auswahl und Ernennung der Staatsanwälte zuständig.
  2. Die Staatsanwälte sind den Weisungen des Justizministers unterworfen.
  3. Der Justizminister ist für die Auswahl und Ernennung der Richter und der Gerichtsleiter in der ordentlichen Gerichtsbarkeit zuständig.
  4. Der Justizminister bestimmt die Art und Weise der periodischen Überwachung der Richter und Staatsanwälte in Geschäftsprüfungen.
  5. Der Justizminister bestimmt Art und Weise der Beurteilung von Richtern und Staatsanwälten in Dienstzeugnissen.
  6. Der Justizminister entscheidet über die Beförderungen der Richter und Staatsanwälte.
  7. Die Gerichtsleiter (Präsidenten und Direktoren) sind als Beamte den Weisungen des Justizministers unterworfen.
  8. Entsprechendes gilt für die Arbeitsgerichtsbarkeit, die Sozialgerichtsbarkeit und Verwaltungsgerichtsbarkeit, die in Bayern der Dienstaufsicht des jeweiligen Fachministers unterstehen.
  9. Der Innenminister ernennt die Verwaltungsrichter aus den Reihen seiner Verwaltungsbeamten.
  10. Eine Mitwirkung oder Kontrolle von anderer Seite (z.B. durch einen  Landesjustizrat oder Richterwahlausschuss) ist bei alledem (a. bis i.)   nicht vorgesehen.

Die deutsche Justiz ist ein staatsorganisatorischer Bestandteil der Exekutive – unverändert seit der Reichsgründung im Jahre 1871. Deutschland beschränkt die Gewaltenteilung des Artikel 20 Grundgesetz auf geschriebene Worte – im Hoffen auf die dauerhafte Befolgung des Verfassungsgebots. Staatsorganisatorisch ist nur die Legislative von der Exekutive unabhängig, die Judikative ist es nicht. In schlechter politischer Hand war und ist diese Staatskonstruktion des 19. Jahrhunderts geeignet, das Prinzip der Gewaltenteilung auszuhebeln. Sie ignoriert die zentrale Erkenntnis Montesquieus und verfehlt den vorbeugenden Sinn und Zweck der Gewaltenteilung. 

Zur Illustration: Welch ein Aufschrei ginge durch die Medienlandschaft, würde man auch die Selbstverwaltung des Bundestages und der Landtage abschaffen, diese Gremien der Verwaltung von „Parlamentsministern“ unterstellen und eine Dienstaufsicht der „Parlamentsminister“ über die einzelnen Abgeordneten in Bund und Ländern einführen!

Allein das selbstverwaltete Bundesverfassungsgericht ist nicht (mehr) in die Exekutive integriert. Nach seiner Konstituierung unterstand selbst dieses Gericht der Verwaltung und der Aufsicht durch die Exekutive (des Bundesministers der Justiz). In einer Denkschrift (Jahrbuch des öffentlichen Rechts »JöR« Band 6, 1957, Seiten 144 ff.) forderte das Bundesverfassungsgericht seine organisatorische Unabhängigkeit, einen eigenen Etat und für seine Richter einen besonderen Amtsstatus. Unter großem Druck der Öffentlichkeit wurden diese Forderungen schließlich erfüllt.

Das Bundesverfassungsgericht ist allerdings nicht die im Grundgesetz genannte „rechtsprechende Gewalt“, sondern nur ein winziger Teil von ihr. Es ist keine oberste Rechtsmittelinstanz für die sonstigen Gerichte des Bundes und der Länder und es ist ausschließlich für Spezialaufgaben zuständig (siehe Bundesverfassungsgerichtsgesetz). Das Bundesverfassungsgericht ist nur eines unter 1109 Gerichten in Deutschland. Am Bundesverfassungsgericht sind nur 16 von insgesamt ca. 20.000 deutschen Richtern tätig.

5. Verfassungstext und Wirklichkeit sind verschiedene Dinge

Art. 20 Grundgesetz spricht von drei Staatsgewalten. Alleine dadurch, dass sie von unserer Verfassung gefordert werden, gibt es sie noch nicht. Der Verfassungstext gehört zu der Welt der Ideen und Zielvorstellungen. Ihr gegenüber steht die reale Welt, die Welt der Tatsachen.

Wie wird ein Sollen zum Sein, eine moralische Idee zur Wirklichkeit, eine Verfassung zur gelebtenTatsache?

Das Gewaltenteilungsprinzip wurde in Deutschland zu keiner Zeit staatsorganisatorisch umgesetzt. Die aus einer anderen Welt (der des Bismarckreiches) stammende staatsorganisatorische Integration der deutschen Judikative in den Herrschaftsbereich der Exekutive wurde bis heute beibehalten.

In Spanien findet die Gewaltenteilung tatsächlich statt. Sie ist im spanischen Staatsaufbau verankert. Der Generalrat der rechtsprechenden Gewalt kann von den Bürgern mit Augen und Ohren beobachtet werden. Ob und inwieweit sein Handeln den Zielen des Gewaltenteilungsprinzips gerecht wird, kann von Sozialwissenschaftlern empirisch erforscht und bewertet werden. Schulklassen können den Generalrat besuchen, Schüler können mit seinen Mitgliedern diskutieren. Die spanische Gewaltenteilung ist in der Welt der Ideen (in dem Verfassungstext) und in der Welt der Tatsachen (in der Staatsorganisation) verankert.

Die Teilung der Staatsgewalt zwischen Exekutive und Judikative in Deutschland kann man nur nachlesen und theoretisch erörtern. Sie ist Programm, eine Willenserklärung des Grundgesetzes, auf die Welt der Ideen, auf geschriebene Worte (den Verfassungstext) beschränkt. Staatsorganisatorisch gibt es sie nicht.

Die deutsche Exekutive hat die Macht, einzelne Richter zu belohnen oder ihnen die Belohnung zu versagen. Spanien hat derartige Möglichkeiten einer persönlichen Einflussnahme auf die Richter von vornherein ausgeschlossen – durch die tatsächliche (organisatorische) Trennung von Exekutive und Judikative.

Leider wird all zu oft in deutschen Schulen und Universitäten und auch von Journalisten von einer Forderung des Grundgesetzes schon auf deren Realisierung geschlossen. Die Realität wird nicht auf den Prüfstand gehoben, im Gegenteil: Wer in Deutschland nach der Verfassungswirklichkeit gefragt wird, pflegt oftmals nur das Grundgesetz aufzuschlagen um dann zu behaupten, dass das Wirklichkeit ist, was nach der Zielvorstellung des Grundgesetzes Wirklichkeit sein soll, allein weil es dort so geschrieben Das ist irreführend. Ein Beispiel:

Art. 120 Abs. 1 der Verfassung der Russischen Föderation lautet:

Die Richter sind unabhängig und nur der Verfassung der Russischen Föderation und dem Bundesgesetz unterworfen„.

Führt allein schon der russische Verfassungstext zu der Erkenntnis, dass alle russischen Richter unabhängig und nur an Verfassung und Bundesgesetz orientiert urteilen? Ist das, was nach dem Wortlaut der russischen Verfassung Wirklichkeit sein soll, schon deshalb wirklich, weil es dort so geschrieben steht?

Ob Richter unabhängig sein sollen, ist eine an Hand des Verfassungstextes zu beantwortende Rechtsfrage. Darüber, wie wahrscheinlich oder wie unwahrscheinlich es ist, dass Richter unter den konkreten Bedingungen ihrer Anstellung, ihrer Karriere und ihres sonstigen sozialen Umfelds tatsächlich unabhängig sind, gibt der Verfassungstext keine Auskunft. Dies ist keine Rechtsfrage sondern eine soziologisch, psychologisch und neurowissenschaftlich zu klärende Tatsachenfrage.

 

6. Der Wille der Mütter und Väter des Grundgesetzes – Die nicht erfüllte Verfassung

Die anthropologische Erkenntnis Montesquieus liegt auch dem Gewaltenteilungsprinzip des Grundgesetzes (Art. 20, Art. 92) zugrunde. Kurz nach dem Ende des 2. Weltkriegs waren sich die Politiker vieler Länder der menschlichen Natur (der eigenen Unvollkommenheit) bewusst.

Adolf Süsterhenn (CDU) in der zweiten Sitzung des Plenums des Parlamentarischen Rats am 08. September 1948:

„…Über die Statuierung der Menschen- und Grundrechte hinaus fordern wir zwecks Sicherung der menschlichen Freiheit bewußt eine pluralistische Gestaltung von Staat und Gesellschaft, die jede Machtzusammenballung an einer Stelle verhindert. Nach unserer Auffassung war es das historische Verdienst Montesquieus, erkannt und verkündet zu haben, daß jede Macht der Gefahr des Mißbrauchs ausgesetzt ist, weil jeder Mensch geneigt ist, wie Montesquieu sagt, „die Gewalt, die er hat, zu mißbrauchen, bis er Schranken findet“. Aus dieser Erkenntnis heraus fordert Montesquieu die Teilung der Staatsgewalt in Gesetzgebung, ausführende Gewalt und Rechtsprechung und ihre Übertragung auf verschiedene, einander gleichgeordnete Träger. Diese Auffassung, die auch heute morgen hier vertreten worden ist, wird von uns in vollem Umfang als richtig anerkannt, wobei wir den besonderen Nachdruck auf die Selbständigkeit und Unabhängigkeit der Justiz legen…“

In derselben Sitzung erklärte Carlo Schmid (SPD):

„…das Prinzip der Teilung der Gewalten…Was bedeutet dieses Prinzip? Es bedeutet, daß die drei Staatsfunktionen, Gesetzgebung, ausführende Gewalt und Rechtsprechung, in den Händen gleichgeordneter, in sich verschiedener Organe liegen, und zwar deswegen in den Händen verschiedener Organe liegen müßten, damit sie sich gegenseitig kontrollieren und die Waage halten können. Diese Lehre hat ihren Ursprung in der Erfahrung, daß, wo auch immer die gesamte Staatsgewalt sich in den Händen eines Organes nur vereinigt, dieses Organ die Macht mißbrauchen wird…“

Die Einsichten und das Wollen der Verfassungsgeber wurden von der deutschen Politik ignoriert. Die Staatsrechtswissenschaft an den Universitäten verharrte in gedanklichen Grundmustern der Vergangenheit. Gesetzgebung, ausführende Gewalt und Rechtsprechung wurden nicht auf „verschiedene, einander gleichgeordnete Trägerübertragen. Die Organisationsstrukturen des kaiserlichen Obrigkeitsstaates blieben – verstärkt durch Zuschnitte der deutschen Justizorganisation auf den nationalsozialistischen Führerstaat – bis heute erhalten. Die neue Gewaltenteilung des Grundgesetzes steht nur auf dem Papier. Ihre praktische Umsetzung durch die Neugestaltung der Staatsorganisation hat bis heute nicht stattgefunden.

Als Instrument zur Erklärung und Rechtfertigung dieses Verfassungsdefizits wird vielfach der Begriff „Gewaltenverschränkung“ verwendet. Das Wort „Gewaltenverschränkung“ beschreibt aber keine Verfassungsziele, sondern nur die tatsächliche Verteilung von Macht in einem Staat (selbst eine Diktatur ist irgendwie gewaltenverschränkt). Die bildliche oder verbale Darstellung einer bestehenden „Verschränkung“ zeigt nicht auf, ob diese auch tatsächlich geeignet ist, Machtmissbrauch zu verhindern. Der Hinweis auf eine „Gewaltenverschränkung“ lässt die entscheidende Frage offen: Ob die innere Struktur der Staatsorganisation so gestaltet ist, dass (offene wie subtile) Übergriffe von Amtsträgern einer Staatsgewalt auf die Amtsträger einer anderen Staatsgewalt von vornherein unmöglich sind.

Zur Antwort ein Blick auf den vorstehenden grafischen Vergleich der spanischen mit der deutschen Staatsorganisation: In Spanien ist eine regierungsamtliche Einflussnahme auf die Richter von vornherein ausgeschlossen, in Deutschland nicht.

7. Warum der Widerstand gegen eine Änderung der Staatsorganisation?

Einige Gesichtspunkte:

a. Politiker geben die bei ihrem Regierungsantritt vorgefundene Macht ungern aus der Hand. Sie haben nach der Macht gestrebt und wollen sie jetzt behalten um ungehindert das bewirken zu können, was sie jeweils für das Gute halten. Dies gilt auch für eine vorgefundene Macht über den Justizapparat.

b. Das Beharren auf der vom Grundgesetz bereits vorgefundenen Staatsorganisation mag auch historisch bedingt sein. Über die personellen Kontinuitäten im Bundesministerium der Justiz von der Vorkriegszeit bis in die siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts berichtet eine vom Bundesministerium der Justiz im Auftrag gegebene Studie. Möglicherweise sahen in autoritären Vorkriegszeiten geprägte, nach 1949 in maßgeblichen Positionen handelnde Juristen aus eigener Weltanschauung keinen Anlass, das Gewaltenteilungsprinzip des Grundgesetzes durch eine grundlegende Änderung der Staatsstruktur organisatorisch zu verwirklichen, sondern sträubten sich dagegen.

c. Eine Änderung der deutschen Staatsorganisation nach europäischem Vorbild würde zum Verschwinden schon beschrittener Karrierewege im Staatsdienst führen. Manch eine Karriereleiter wäre umsonst bestiegen worden, Jahre der Anpassung an das bei Karrierebeginn vorgefundene System wären vertan. Veränderungsbestrebungen treffen auf vielfältigen Widerstand (Niccolò Machiavelli: „Jeder Neuerer hat alle die zu Feinden, die von der alten Ordnung Vorteile hatten„).

d. Politiker, die sich gegen eine klare rechtliche Begrenzung von Macht sperren, wo sie ohne weiteres möglich wäre, haben bisweilen ein Interesse daran, an eigenen Grenzüberschreitungen nicht gehindert zu sein. Aber auch dort, wo solche Hintergedanken fern liegen, ist auf die Tugend kein Verlass. Eifrige Pflichterfüllung kennt oftmals kein Maß. So hat selbst die Tugend Grenzen nötig.

Zu der Schieflage der Gewaltenteilung in Deutschland im Einzelnen:

In Deutschland entscheiden zu Ministern ernannte Politiker und die ihren Weisungen unterstellten Beamten über die Auswahl, die Anstellung, die Benotung in Dienstzeugnissen und die Beförderung von Richtern. Diese Personalhoheit der Exekutive über die Richter ist Macht über die Lebenswege einzelner Menschen. Jeder Richter weiss, dass seine Karriere davon abhängt, ob seine Verhaltenweise der Regierung gefällt. Dies führt nicht nur zu sozialen, sondern auch zu psychischen Abhängigkeiten von Richtern.

Die Macht des Ministers reicht bis in die Gerichte hinein: Entgegen einem verbreiteten Irrtum sind die Gerichtspräsidenten in ihrer Aufgabe als Präsidenten nicht Richter, sondern weisungsgebundene Verwaltungsbeamte. Nur während sie richterliche Tätigkeiten ausüben (Gerichtsakten bearbeiten, eine Gerichtsverhandlung leiten) stehen sie als Richter den anderen Richtern gleich. Als Repräsentanten des Gerichts und in ihrer Eigenschaft als Organe der Justizverwaltung sind sie hingegen (im ministeriellen Außendienst) der Exekutive weisungsunterworfene Beamte und als solche die Dienstvorgesetzten der übrigen Richter an ihrem Gericht.

Die Gerichtspräsidenten erteilen den Richtern in regelmäßigen Abständen Noten mit Versetzungscharakter. Den Maßstab dafür, wann ein Richter „gut“ ist und im Zeugnis in die nächsthöhere Notenstufe „versetzt“ wird, legt eine andere Staatsgewalt (das Ministerium) in Beurteilungensrichtlinien fest. Die Gerichtspräsidenten sind an diese ministeriellen Vorgaben gebunden. Die Beförderungsauslese erfolgt so – auch – nach den politischen Vorstellungen und den Interessen der Regierung.

In deren finanzpolitischem Interesse kann es liegen, oberflächlich arbeitende Richter besser zu benoten als sorgfältig arbeitende Richter. Denn wer sich Nachfragen und Ermittlungen erspart, wer tatsächliches oder rechtliches Vorbringen der Prozessparteien übergeht, wer darauf verzichtet, Sachverständigengutachten zu durchdenken, wer den Bürgern in der Verhandlung das Wort abschneidet und sie im Urteil mit Satzbausteinen abfertigt, erledigt mehr Fälle pro Jahr als es einem bürgerfreundlichen und streng an Verfassung und Gesetz orientierten Richter möglich ist. Das vermindert Ausgaben: Je mehr Fälle pro Richter im Jahr erledigt werden, desto weniger Richter braucht man. Oberflächlich und unsauber arbeitende Richter helfen der Regierung bei der Einsparung von Richterstellen. Zu Ministern ernannte Politiker können richterliches Fehlverhalten belohnen: Der kostensparende „Schnellrichter“ steigt in der Notenskala auf und macht Karriere, sein sorgfältig arbeitender Kollege „bleibt sitzen“. Die Verfassungsprinzipien des rechtlichen Gehörs und der Bestenauslese haben das Nachsehen.

Entsprechendes gilt umso mehr für die – in Deutschland weisungsgebundenen – Staatsanwälte.

Die Karrierelaufbahnen von Richtern und Staatsanwälten in Deutschland sind oftmals miteinander verwoben: Ein Staatsanwalt kann mit einem Richteramt belohnt werden, ein Richter mit einem Beförderungsamt im staatsanwaltschaftlichen Bereich. In stetem Wechsel zwischen Ankläger- und Richterfunktion kann dies bis zu höchsten Positionen in Bund und Ländern führen. Aber wie neutral ist ein Strafrichter zwischen Anklage und Verteidigung, wenn der Staatsanwalt sein Kollege, ein guter alter Bekannter, ein Stammtischfreund ist, während ihm der Verteidiger zum ersten Mal begegnet? In ähnlicher Weise miteinander verwoben sind mancherorts die Karrieren von Beamten und Verwaltungsrichtern.

Es steht in der Macht der Exekutive, die Öffentlichkeit über ihre Art der Bestenauslese in der Justiz in die Irre zu führen, indem sie einerseits in öffentlich zugänglichen ministeriellen Beurteilungensrichtlinien nachlesbare sachgerechte Kriterien für die Beurteilung vorschreibt, die dann aber andererseits bei der Karriereförderung im Einzelfall (der Notenerteilung) auf Grund von informellen ministeriellen „Anregungen“ in den Hintergrund treten und von ungeschriebenen Kriterien wie  ‘Anpassungsbereitschaft’, ‘Plansollerfüllung’ oder der „Empfehlung“ gesetzwidriger ‘Standards’ überlagert werden.

Die Rede ist von den Möglichkeiten der Exekutive, Macht über die Judikative auszuüben. Aber ist es nicht eher unwahrscheinlich, dass im Rechtsstaat Deutschland von dieser Macht in negativer Weise Gebrauch gemacht wird?  – Ein erhellender Satz von Max Frisch: „Das Unwahrscheinliche ist nur ein Grenzfall des Möglichen, und wenn es einmal eintritt, das Unwahrscheinliche, so besteht keinerlei Grund zur Verwunderung, zur Erschütterung, zur Mystifikation“ (Homo Faber, Stuttgart · Hamburg, 1957 S. 28 f.). Auch das als unwahrscheinlich behauptete ist eine reale Möglichkeit. Hat der deutsche demokratische Rechtsstaat offene Flanken?

Einige prominente Zitate:

  • Zu der Personalhoheit als Macht über Menschen eine Feststellung des Politologen Theodor Eschenburg:

Dadurch dass sie [die Regierung], wenn auch innerhalb gesetzlicher Schranken, über das Personal verfügt, das die Staatsapparatur bedient, hat sie ein sehr wirksames Führungsmittel in der Hand. Sie kann belohnen und die Belohnung versagen. Wer befördert, befiehlt!
(„Staat und Gesellschaft in Deutschland“ Kapitel 11 Abschnitt 5)

  • Der Sozialpsychologe Stanley Milgram schreibt über den Zusammenhang von Hierarchie, Beförderung und Machterhalt:

„Im gesamten Verlauf der Konfrontation mit Autorität trifft der Mensch ständig auf eine Belohnungsstruktur; in der die Nachgiebigkeit gegenüber der Autorität im allgemeinen belohnt wird, während die Verweigerung der Unterordnung in den meisten Fällen bestraft wird. Obgleich es viele Arten gibt, Belohnung für pflichtgemäße Unterordnung zuzumessen, ist doch die genialste die folgende: Das Individuum darf in der Hierarchie eine Stufe höher steigen, wobei zugleich der einzelne motiviert und das System in seiner Struktur bestärkt und fortgesetzt wird. Diese Art von Belohnung – »Beförderung« – enthält eine tiefe emotionale Befriedigung des Individuums; ihr Hauptcharakteristikum ist jedoch, dass sie die Kontinuität der hierarchischen Form sichert.“
(Stanley Milgram Das Milgram-Experiment, 19. Auflage 2015, Rowohlt Taschenbuchverlag, Seite 161 – Originalausgabe: Obedience to Authority. An Experiment View im Verlag Harper & Row, New York 1974)

  • Paulus van Husen – Präsident des Verfassungsgerichtshofes und des Oberverwaltungsgerichts für Nordrhein-Westfalen – führte aus eigener Erfahrung zu der Macht der Regierung über die Richter aus:

Das Grundübel liegt in der Richterernennung durch die Exekutive. Zunächst besteht die häufig verwirklichte Gefahr, daß für das Richteramt ungeeignete Personen aus sachfremden Gründen, die der Exekutive nützlich erscheinen, ernannt werden. Wie soll ein Richter unabhängig sein, der sein ganzes Leben lang hinsichtlich der Beförderung in Aufrückestellen von der Exekutive abhängt. Nicht jeder Mensch ist zum Märtyrer für eine Idee geboren, andererseits hat aber jeder Mensch die Pflicht, für seine Familie und sein eigenes Fortkommen zu sorgen. Die richterliche Unabhängigkeit ist eine verlogene Angelegenheit, so lange dies System besteht. ( …. )
Ein ganz böses Kapitel ist die sogenannte Dienstaufsicht der Exekutive, die tausend Hände hat, um den Richter abhängig zu machen und die Rechtsprechung zu beeinflussen.“

Es funktioniert immer noch so, wie es der preußische Justizminister Leonhardt vor über 130 Jahren beschrieben hat: „Solange ich über die Beförderungen bestimmen kann, bin ich gern bereit, den Richtern ihre sogenannte Unabhängigkeit zu konzedieren“ .‘

  • Präsident des Oberlandesgerichts (Karlsruhe) a.D. Dr. Werner Münchbach in NJW (Neue Juristische Wochenschrift) vom 29. Oktober 2020 Seiten 3283 bis 3288 [3284]:

Der BGH unterwirft die richterliche Entscheidungspraxis einem durchschnittlichen Pensum, das von anderen Richtern zu bewältigen sei, und damit einem Gruppenzwang. Die Entscheidung könnte als Freibrief für die Justizverwaltung begriffen werden, jeden Richter auf ein durchschnittliches Erledigungspensum zu trimmen und damit tendenziell auch die durchschnittliche Erledigungszahl in eine Endlos-Spirale zu steigern.“

8. Die Forderung des Europarats

Der Europarat hat die Bundesrepublik Deutschland aufgefordert, ein System der Selbstverwaltung der Justiz einzuführen und die Möglichkeit abzuschaffen, dass Justizminister der Staatsanwaltschaft Anweisungen zu einzelnen Fällen geben. Deutschland ignoriert den Europarat.

Es bleibt es bei den staatlichen Organisationsstrukturen des Bismarckreiches: Der Justizbereich ist einem Regierungungsmitglied (Minister) hierarchisch unterstellt. Die Gerichte werden von dem übergeordneten Ministerium als „nachgeordnete Behörden“ bezeichnet und behandelt. Der Justizminister ist weisungsbefugter Vorgesetzter der Staatsanwälte. Er ist als Mitglied des Kabinetts den Kabinettzwängen und der Kabinettdisziplin unterworfen. Der Minister ist Politiker und dient seiner Partei. Nicht zuletzt hat er seine persönliche Karriere im Blick.

9. Zur Macht in Deutschland

Deutschland in Bund und Ländern:

  • Eine politische Partei (oder Parteienkoalition) stellt die Mehrheit der Abgeordneten und dominiert das Parlament.
  • Dieselbe politische Partei (oder Parteienkoalition) stellt die Regierung und beherrscht die Exekutive.       
  • Die Justiz untersteht der Regierung.

10. Fazit und Ausblick:

Das Fazit 

  1. Die Teilung der Staatsgewalt in Gesetzgebung, ausführende Gewalt und Rechtsprechung und ihre Übertragung auf verschiedene, einander gleichgeordnete Träger ist in Deutschland bis heute nicht erfolgt. Eine staatsorganisatorische Gewaltenteilung wurde verhindert. Noch immer haben Regierungen Macht über die deutsche Justiz (einzige Ausnahme: Verfassungsgerichtsbarkeit), entscheiden Minister, wer Richter wird und wer als Richter Karriere macht, verwalten und beaufsichtigen Minister die Gerichte und die Richter.
  2. Die Gewaltenteilung in Deutschland erschöpft sich in wesentlichen Punkten in einem Verfassungsgebot. Ob und in welchem Maße dieses Verfassungsgebot befolgt wird, hängt von dem guten Willen und der Rechtstreue der im Dienst der Öffentlichkeit handelnden Personen ab. 
  3. Die deutsche Staatsorganisation verhindert nicht schon aus sich heraus die Bündelung von Macht in wenigen Händen.              

Allein durch Worte in einer Verfassung gibt es noch keine Gewaltenteilung. In Deutschland ist das Gewaltenteilungsprinzip nur lückenhaft staatsorganisatorisch verwirklicht. Wäre es von Vorteil, schon in guten Zeiten für eine Staatsorganisation in Bund und Ländern zu sorgen, die den Stürmen politisch schlechterer Zeiten standhalten kann?

Udo Hochschild   (© Udo Hochschild – gewaltenteilung.de)

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Demokratiie garantiert keinen Rechtsstaat. Aber ein Rechtsstaat kann Demokratie garantieren.

 

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