Alles, was Recht ist

 von Henning Klüver

(Süddeutsche Zeitung 19.11.2002)

 

Aus dem Text:

„…. Berlusconis Traum wären deutsche Verhältnisse ….“

 

Italienische und deutsche Juristen im Goethe-Institut Turin

Die Justiz hat es in Italien nicht leicht. Wenn, wie vor ein paar Tagen in Salerno, Antiglobalisierungsgegner unter dem Verdacht der Gründung einer subversiven Vereinigung verhaftet werden, dann geht die Opposition auf die Straße, und die linke Presse vermutet einen Rachezug des Staatsapparates wegen der Unruhen von Neapel und Genua im vergangenen Jahr. Wenn, wie am Sonntag bekannt wurde, das Appellationsgericht von Perugia den Senator auf Lebenszeit und mehrmaligen christdemokratischen Ministerpräsidenten Giulio Andreotti in zweiter Instanz der Anstiftung zum Mord an einem missliebigen Journalisten für schuldig befindet (nachdem er in erster Instanz freigesprochen worden war), dann steht das politische Establishment Kopf.

Sogar der Staatspräsident Carlo Azeglio Ciampi, Vorsitzender des obersten Richterrates und Garant der Unabhängigkeit der Justiz, zeigt sich angesichts des Andreotti-Urteils „tief verstört“, und Ministerpräsident Silvio Berlusconi, der selbst in mehrere Verfahren verwickelt ist, sieht darin ein „Theorem von Richtern, welche die Geschichte neu schreiben wollen“. Es sei an der Zeit, dass der Rechtsstaat sich korrigiere und eine Reform des Rechtssystem die „außer Kontrolle geratene Justiz“ bändige.

Wer heute in Europa an einschneidende Reformen seiner Institutionen denkt, bewegt sich längst in einer Gemeinschaft mit anderen Partnern, auch wenn der Weg zu einer „europäischen Union der Justiz“ noch weit ist. Denn Zusammenarbeit, so ließ auch der Präsident der Europäischen Vereinigung, der Richter Ernst Markel aus Wien, verlauten, sei noch keine Integration. Das ganze System der Union, so Markel, sei schwerfällig, nicht transparent und die juristischen Grundlagen überhaupt schwach: die Mitgliedsstaaten konnten sich nicht einmal darauf einigen, die in Nizza vor einem Jahr mit großen Aufwand verkündigte Grundrechtecharta ins Vertragswerk der EU aufzunehmen.

Das Goethe-Institut in Turin hat nun in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Richterbund und der italienischen „Associazione Nazionale Magistrati“ eine Tagung zum „Rechtsraum Europa“ veranstaltet, bei der es um die Frage ging, wie sich Standards für eine europäische Rechtsprechung in der Spannung von Unabhängigkeit (der Gerichte und Staatsanwaltschaften) und Qualität (der Strafprozesse und der Urteile) entwickeln können. Die Teilnehmer redeten mit so erfrischender Selbstkritik zur Sache, wie man sie selten öffentlich hört.

Renate Jaeger etwa, Bundesverfassungsrichterin, nannte die deutschen Rechtsstrukturen ein Relikt aus vordemokratischer Zeit. Der Richter fühle sich als Staatsdiener, als Beamter, der in „einem vorauseilenden Gehorsam“ mehr auf das Wohlwollen seiner Vorgesetzten achte, als seiner Unabhängigkeit lieb sein kann. Kay Nehm, Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof, kritisierte, dass es im deutschen Rechtssystem – im Gegensatz zu Italien und anderen Ländern – noch eine Weisungsbefugnis für Staatsanwälte durch die Behörde gebe. Es sei allein schon verdächtig, wenn Justizminister öffentlich erklärten, davon keinen Gebrauch machen zu wollen. Es gebe bekanntlich, so Nehm, subtilere Wege der Beeinflussung. Im übrigen herrschte unter den Teilnehmern aus beiden Ländern Einigkeit: Die schlechte materielle und finanzielle Ausstattung, die dünne Personaldecke (in Deutschland sind von 25000 Stellen 4000 nicht besetzt), der Instanzenabbau und der zunehmende ökonomische Druck führten zu einem eindeutigen Qualitätsverlust, bei dem der Bürger nur noch ein Urteil erhalten kann, wo er auf sein Recht hofft.

Die italienische Seite äußerte sich etwa mit Edmondo Bruti Liberati, dem Vorsitzenden des römischen Richterbundes, ähnlich freimütig über die eigenen Probleme. Zwar wird im Rechtssystem südlich der Alpen nicht nur die Unabhängigkeit der Richter, sondern auch die der Staatsanwälte garantiert, doch führt die teilweise katastrophale Dauer der Prozesse dazu, dass Rechtsprechung manchmal zur Farce werden kann. Hunderte Male ist Italien deshalb bereits vom europäischen Gerichtshof gerügt worden.

In Deutschland diskutiert man derweil kontrovers, ob nicht eine Art Selbstverwaltung der Justiz, wie sie in Italien durch einen obersten Richterrat („Consiglio Superiore della Magistratura“) garantiert wird, die Autonomie der Dritten Gewalt im Staat stärken und damit auch die Qualität des Rechtssystem verbessern könnte. In Italien denkt vor allem das rechtsliberale politische Lager in eine ganz andere Richtung. Neue, geradezu skandalöse Gesetze (Behinderung bei der Übermittlung ausländischer Dokumente zur Beweisführung, Abschaffung des Strafbestandes der Bilanzfälschung, Schwächung der richterlichen Autorität durch einen unbeschränkten Befangenheitsverdacht) und zweifelhafte Regierungsbeschlüsse (Anerkennung des europäischen Haftbefehls erst nach einer unbestimmt langen Übergangsfrist) sind noch auf dem Hintergrund der Rechtsprobleme des italienischen Ministerpräsidenten und seines engeren Familien- und Freundeskreises zu sehen.

Der Hilferuf des Staatsanwalts

Doch werden jetzt Reformvorhaben vorbereitet, die den Charakter der italienischen Justiz grundsätzlich verändern könnten. Das geht von einer möglichen ministeriellen Weisungsbefugnis (Berlusconis Traum wären deutsche Verhältnisse) über die politische Kontrolle des obersten Richterrates und der juristischen Ausbildung bis zur strikten Trennung der Laufbahnen von Staatsanwälten und Richtern. Mit dem Andreotti-Urteil, auch wenn es durch ein Kassationsgericht noch in eine abschließende dritte Instanz geht, fühlt sich Berlusconi bestätigt. Der Hilferufe des Mailänder Oberstaatsanwaltes Francesco Saverio Borrelli, der im Januar mit einem „Resistere! Resistere! Resistere!“ zum Widerstand gegen die Politisierung der Justiz aufgerufen hatte, wird so noch verständlicher.

Die vor Jahresfrist beschlossene Einrichtung einer europäischen Staatsanwaltschaft bleibt zwar auf einen eng umschriebenen Strafbereich beschränkt. Aber ihre absolute Unabhängigkeit gibt schon jetzt einen Standard vor, hinter dem etwa die Deutschen nicht mehr lange zurückbleiben können. Auf der anderen Seite bescheinigen die europäischen Gerichte den Italienern (neben dem Vorwurf der Langsamkeit der Prozessführung) eine geradezu vorbildliche Übereinstimmung mit europäischen Zielen, etwa in ihrer Eigenorganisation. Auch eine Berlusconi-Regierung wird auf die Dauer Reformen nicht gegen Europa machen und so die Uhren zurückstellen können.

Mit freundlicher Genehmigung der Süddeutschen Zeitung
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Eine Darstellung der Gewaltenteilung in Italien finden Sie hier

Zur Abhängigkeit der deutschen Staatsanwaltschaft siehe auch:

Dr. Erardo Cristoforo Rautenberg (Generalstaatsanwalt des Landes Brandenburg):  Staatsanwaltschaft und Gewaltenteilung

und

Raoul Muhm (Rechtsanwalt in München):  Der unabhängige Staatsanwalt – das italienische Modell

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