Aus dem Text:
„…. Es kann gar nicht genug Schutzmechanismen für die grundlegenden Freiheitsrechte geben gegenüber den Risiken, die sich in der Epoche der Videopolitik und der Videodemokratie immer deutlicher zeigen, in der Epoche der Tyrannen der Mehrheit ….“
Die neue Bedrohung für Italiens Justiz
von Roberto Oliveri del Castillo
übersetzt und kommentiert von Sabine Stuth
Vierter Richterstreik in Italien – Berlusconis Staatsreform führt zu einer autoritären Justiz, wie sie bereits durch das Grandi-Dekret 1940 erreicht wurde
Einleitung
Am 14. Juli 2005 haben die Richter in Italien erneut gestreikt. Nachdem sie im Frühjahr 2002 einen „Tag des Rechtsstaats“ durchgeführt und am 20.6.2002 zur Verteidigung der Unabhängigkeit der Justiz zuletzt gestreikt hatten (mit einer Beteiligung von über 80 % der Richterschaft), setzen sie damit ihren Kampf gegen die verheerende Justizpolitik der Regierung Berlusconi fort.
Es wird als offenes Geheimnis gehandelt, dass Silvio Berlusconi das Amt des Staatspräsidenten anstrebt. Aktuell betreibt seine Regierungskoalition eine Verfassungsreform, die das konstitutionelle System der checks and balances zwischen den Staatsgewalten (Parlament, Exekutive, Jurisdiktion und Staatspräsident) nach ihren Visionen umformen soll. Seit Jahren beobachten wir spektakuläre Initiativen gegen die Richter und Staatsanwälte, die der italienische Premier in seinen Fernsehsendern und Zeitungen als Verrückte, als Kommunisten und rote Roben diffamiert und ein Gesetz nach dem anderen schreiben lässt, um sich selbst und seine Freunde Strafverfahren zu entziehen und die Unabhängigkeit der Justiz (d.h. auch der Staatsanwaltschaft Italiens) per Disziplinarverfahren und Dienstrecht „in den Griff“ zu bekommen (vgl. dazu Stuth, „Macht gegen Recht – Berlusconi gegen die italienische Justiz“ in: Kritische Justiz, Heft 3/2003, S. 256 f).
Den aktuellen Stand und den Inhalt dieser inzwischen beschlossenen Gesetze legt Roberto Oliveri del Castillo dar, seinen Artikel „Magistratura e organi di garanzia nella modifica costituzionale“ (in: questione giustizia, Heft 3/2005, S. 446 ff.) habe ich zur Information der deutschen Kolleginnen und Kollegen auszugsweise übersetzt.
Das Justizmodell à la Berlusconi/Castelli und der Widerstand des Staatspräsidenten
Die Regierungsmehrheit hatte am 1. Dezember 2004 ein neues „italienisches Gerichtsverfassungsgesetz“ (legge Castelli, benannt nach dem Justizminister) beschlossen und dieses am 3. Dezember 2004 dem Staatspräsidenten zur Veröffentlichung vorgelegt. Eine Fundstelle im Gesetzblatt kann man nicht angeben, da der Präsident der Republik, Carlo Azeglio Ciampi, das Gesetz nicht unterzeichnet hat. Er hat in seiner Stellungnahme (vgl. questione giustizia Nr. 1/2005, S. 183) ausgeführt, dass es sich um einen normativen Akt von großer verfassungsrechtlicher Bedeutung und beachtlicher Komplexität handele. Die Reform berühre entscheidende und neuralgische Punkte der Organisation der Rechtsprechung, was ihn dazu veranlasst habe, sie anhand der Parameter zu überprüfen, die von den einschlägigen Normen und Prinzipien der Verfassung festgelegt werden. Diese Prüfung (im Einzelnen dazu unten) hat dazu geführt, dass der Präsident der Republik das Gesetz mit einer Botschaft vom 16. Dezember 2004 an das Parlament zurückgegeben hat. In dieser Botschaft hat er vier Punkte von offensichtlicher Verfassungswidrigkeit aufgezählt. Die Monita des Staatspräsidenten müssen dazu führen, dass das Parlament erneut über den Gesetzentwurf befindet. Die Parlamentsmehrheit hat, unbeeindruckt von den Einwänden und dem Umstand, dass die Zurückverweisung an die Kammern des Parlaments ein spektakuläres Ereignis darstellt, das Gesetz verbunden mit einer Vertrauensfrage erneut beschlossen. Damit kann das Veto des Staatspräsidenten überwunden werden.
Ciampi hatte vier Verstöße gegen die Verfassung aufgezählt, der erste betrifft Art. 2, Abs. 31 lit. a), der dem Justizminister aufgibt, den Parlamentskammern am Anfang des Jahres Mitteilung zu machen über die Maßnahmen der Justizverwaltung im vergangenen Jahr und über die Leitlinien der Justizpolitik für das kommende Jahr. Der letzte Halbsatz wird vom Staatspräsidenten ebenso für verfassungswidrig gehalten, wie drei weitere Punkte: Die Einrichtung eines Monitoringbüros für Gerichtsverfahren mit disziplinarrechtlichem Ziel, die Klagebefugnis des Ministers vor dem Verwaltungsgericht gegen Personalentscheidungen (Ernennungen und Beförderungen) durch den Obersten Richterrat (Consiglio Superiore della Magistratura, CSM) und die Aushöhlung der Kompetenzen des CSM in Bezug auf die Richterkarrieren, die faktisch durch Prüfungen (Concorsi) und Examenskommissionen bis zur Unkenntlichkeit verändert werden. Darüber hinaus hat der Präsident die redaktionelle Technik der Normen kritisiert (einer der Artikel besteht aus 28, einer aus 31 Absätzen), die kryptisch und unverständlich sei. Dazu hat Gaetano Silvestri gemeint, das Gesetz scheine in Sanskrit geschrieben zu sein.
Zur historischen Entwicklung der italienischen Justiz
Oliveri del Castillo bezeichnet den neuen Gesetzestext, der das ursprüngliche System des königlichen Dekrets Grandi von Januar 1941 wiederherstelle, als von Anfang an eine Art alchimistisches Experiment eines kollektiven Frankenstein: Man nehme eine fortgeschrittene westliche Gesellschaft des 21. Jahrhunderts, mit ihren Widersprüchen aber auch ihren immer deutlicheren und verbreiteteren Bedürfnissen nach Legalität und gebe ihr eine Richterschaft, die nach den Kriterien und Prinzipien eines autoritären Landes des Jahres 1940 funktioniert und die keinerlei Möglichkeit hat, mit den sozialen Erfordernissen zu interagieren. Schon ein summarischer Vergleich der Leitkriterien des Grandi-Dekrets und der Castelli-Reform macht beunruhigende Parallelen deutlich.
Das Grandi-Dekret vom 30. Januar 1941, Nr. 12 beruhte auf der autoritären Kultur des alten Liberalstaates und des Albertinischen Statuts, in denen die Interpretation des Gesetzes, bindend für jeden, der Legislative zukam. Die Regierung hatte das Monopol der Beförderungen, der Versetzungen, der Zuweisungen zur Straf- oder Ziviljustiz, und der Justizminister konnte jedes Mitglied erst- oder zweitinstanzlicher Gerichte zu sich laden und rügen. Dennoch hatte sich im Laufe der Jahre in der Lehre das Konzept der Selbstverwaltung abzuzeichnen begonnen (vgl. L. Mortara seit 1895, wieder aufgegriffen von Pietro Calamandrei 1921, Nachweise bei Vladimiro Zagrebelsky, „Storia dell’ Italia, Band XIV, Gesetz – Recht – Justiz, Verlag Einaudi 1998). Auch die Anfänge von Richterorganisationen (die Gründung der nationalen Richtervereinigung ANM in Mailand 1909 nach der sog. Proklamation von Trani 1904) wirkten in Richtung von vorsichtigen Veränderungen. Das Grandi-Dekret dagegen stellte eine kohärente Neubekanntmachung des Normensystems dar, das das Funktionieren der Justiz so regelt, wie sie seit der Mitte des vorangegangen Jahrhunderts entwickelt worden war (sog. Siccari-Gesetz 1851). Sie stellte sich als logische Weiterentwicklung des Gesetzes Nr. 563/1926 mit dem Verbot von Richterorganisationen dar, nachdem die ANM schon im vorangegangenen Jahr aufgelöst worden war. In seinen Erläuterungen unterstrich Minister Grandi, dass er bei der Regelung der Rechtsverhältnisse der Richter selbstverständlich das Prinzip der sog. Selbstverwaltung der Justiz zurückgewiesen habe, das unvereinbar sei mit dem Konzept des faschistischen Staates. Denn es sei unzulässig, dass innerhalb des Staates Organe existierten, die vom Staate unabhängig oder autark seien, oder Kasten, die der einheitlichen souveränen Macht entzogen seien, welche an höchster Stelle jegliche öffentliche Funktion regele. Er hielt es keineswegs für nötig, dass die Rechtsprechung eine autonome Gewalt im Staate darstelle, denn auch sie müsse ihre Aktivitäten an den generellen Direktiven der Regierung für die Ausübung jeglicher öffentlicher Funktion orientieren.
Die Kriterien, nach denen die Justizorganisation Typ Grandi und – mittels ihrer – die Richterschaft geprägt wurden, waren folglich die Zurückweisung der Selbstverwaltung und die hierarchische und pyramidale Durchstrukturierung der Richterschaft. Die Vorsitzenden bzw. Präsidenten überwachten die zugeordneten Richter (Art. 229 – 231), während die Staatsanwaltschaft aus Abteilungen zusammengesetzt wurde, die in sich und untereinander hierarchisch organisiert waren (Art. 70). Die Beförderungen der Richter in höhere Ämter hing praktisch ausschließlich vom Minister ab, weil die Auswahlverfahren vor Kommissionen stattfanden, die aus vom Minister ernannten Kassationsrichtern bestanden (Art. 145 ff.). Die Leiter der Oberinstanzen (Präsidenten und Generalstaatsanwälte) wurden vom Kabinett auf Vorschlag des Justizministers ernannt. Das CSM, zusammengesetzt aus Kassationsrichtern, die vom Minister ernannt worden waren, und unter Vorsitz des Chefpräsidenten, gab nur beratende Stellungnahmen über den Wechsel zwischen rechtsprechender und ermittelnder Funktion ab, beides auf Antrag des Ministers. Es handelte sich folglich um eine Richterschaft, die vollständig von den Eingriffen des Ministers und der Kassationsrichter reguliert wurde, die jeweils bei den entscheidenden Punkten im Leben jedes einzelnen Richters eingriffen. Das System Grandi homogenisierte die Strukturen der Rechtsprechung mit denen der politischen Macht, indem es eine Kette der Abstimmungen zwischen dem Minister, dem Kassationsgericht und dem Rest der Richterschaft durch eine starke interne und folglich äußere Abhängigkeit herstellte. Mit der Zeit wurde dieses System vom Verfassungsgerichtshof und von den wieder erstandenen Richtervereinigungen abgebaut. Die Nachkriegsverfassung verlangte (und verlangt) eine Neuordnung der Gerichtsbarkeit, die mit den Vorgaben der Verfassung übereinstimmt. Umgekehrt scheint die heutige parlamentarische Mehrheit dabei zu sein, nach jahrelangen Anläufen Normen hervorzubringen, die die Selbstverwaltung abbauen, in dem sie Beförderungen und Examen wieder einführen und den Weg der Hierarchisierung der Abteilungen der Staatsanwaltschaft gehen.
Die Justizstruktur in der italienischen Nachkriegsverfassung
Dieser Gesetzestext steht – so schreibt Oliveri (und auch Ciampi) – in offensichtlichem Widerspruch sowohl zu dem grundlegenden Prinzip des Art. 3 der italienischen Verfassung (ragionevolezza) wie auch zu den Art. 97 (buon andamento degli uffici) und Art. 101 (Unterwerfung nur unter das Gesetz, äußere Unabhängigkeit), Art. 104 und 105 (Kompetenzen des CSM, Autonomie und innere Unabhängigkeit), Art. 107 (Unterscheidung der Richter nur nach Funktion und nicht nach Karriere und Beförderungsstufen). Insbesondere hat der Verfassungsgerichtshof seit 1976 (Urt. Nr. 234/1976 in: Giurisdizione Costituzionale 1976, 1851) unterstrichen, dass Art. 101 der Verfassung darauf zielt, zu garantieren, dass die Richter allein aus dem Gesetz die Regeln ableiten, die in einer Entscheidung anzuwenden sind, unter Ausschluss jeglichen äußeren Eingreifens hinsichtlich der Art der Entscheidung im konkreten Fall. Das Verfassungsgericht hielt jegliche hierarchische Strukturierung der Abteilungen (auch der der Staatsanwaltschaft) für eine Verletzung der inneren Unabhängigkeit, ebenso jegliche äußere Konditionierung, auch betreffend die Beförderung, wenn sie an die konkret ausgeübten Funktionen gebunden war.
Was die Schwächung des CSM mit Hilfe von Prüfungen angeht, steht der Inhalt der „Reform“ im grellen Widerspruch zu den Aufgaben, die Art. 105 der italienischen Verfassung dem CSM im Rahmen von Beförderungen gibt. Dieses hätte tatsächlich nur noch entleerte Kompetenzen und wäre reduziert auf ein Ratifikationsorgan für anderweitig gefallene Entscheidungen, nämlich bei den Prüfungen. Zu diesem Punkt sind die Urteile des Verfassungsgerichts Nr. 86 und 87 von 1972 bedeutsam (über die Unzulässigkeit von Berufungen an das Revisionsgericht unabhängig von den ausgeübten Funktionen und betreffend das Zusammenspiel zwischen Art. 101 und Art. 107 der Verfassung), sowie die Arbeiten der konstituierenden Versammlung, in denen hervorgehoben wird, dass die Strukturierung der Gerichtsbarkeit nach Beförderungsgraden die Hierarchien fortsetzt und die interne Unabhängigkeit und Autonomie des einzelnen Richters verletzt, auf diesem Wege die Bindung allein an das Gesetz entleert und die Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz beschädigt. Es ist kein Zufall, dass zwei neuralgische Normen betreffend das Justizsystem, die die verfassunggebende Versammlung gewählt hat, den Begriff „allein“ enthalten, um die Bindung der Richter allein an das Gesetz (Art. 101) und die ausgeübte Funktion als alleinigen Parameter der Unterscheidung zwischen Richtern (Art. 107) zu betonen. Das sollte hierarchische organisatorische Systeme verhindern, die auf permanenten Beurteilungen zum Zwecke der Beförderung beruhen und sich so vom Bild der Verfassung entfernen.
Die Monita des Staatspräsidenten
Die offensichtliche Verfassungswidrigkeit der hier genannten Punkte hat der Staatspräsident in seiner Botschaft an die Parlamentskammern vom 16. Dezember 2004 deutlich gemacht. An erster Stelle die Norm, die dem Justizminister Kompetenzen über seine verfassungsmäßigen Rechte hinaus zuschreibt, d.h. die jährliche Festlegung der Leitlinien der Justizpolitik. Nach Art. 101 der Verfassung sind die Richter allein dem Gesetz unterworfen und so kann ihre Tätigkeit, die evident an legislative Akte gebunden ist, nicht Leitlinien der Justizpolitik unterworfen werden, die nicht explizit in Akten mit Gesetzeskraft formalisiert sind. In seiner eigentlichen Substanz gibt das von den Parlamentskammern angenommene Gesetz dem Justizminister eine Macht zum Erlass von Leitlinien, die dem Vierten Titel der Verfassung nicht entspricht, wo die autonome und unabhängige Ausübung der Rechtsprechung sowohl gegenüber der Exekutive wie auch gegenüber dem CSM abgesichert ist. Der Staatspräsident hat zudem unterstrichen, dass die Formulierung von primären Zielen, die die Tätigkeit der Rechtsprechung im Laufe des Jahres verfolgen soll („Leitlinien der Justizpolitik“) für sich selbst schon eine Verletzung des Art. 112 der Verfassung darstellt, der das Legalitätsprinzip für die Strafverfolgung regelt: Die absolut unscharfe Formulierung der Norm schafft einen politischen Ermessensspielraum, der in diese Pflichten eingreift.
Auf derselben Linie liegt die Kritik an dem sog. „Monitoringbüro“ für gerichtliche Entscheidungen, um schwere Unregelmäßigkeiten aufzudecken. Auch diese Vorschrift wird in der Botschaft des Staatspräsidenten als Vorschrift gesehen, die im offenen Kontrast zu den Art. 101, 104 und 110 der italienischen Verfassung steht. So unterstreicht der Staatspräsident, dass der ausdrücklich in der Norm formulierte Zweck des Monitorings der Prozessergebnisse – Phase für Phase, Instanz für Instanz -, das beim Justizministerium angesiedelt ist, außerhalb der Organisation und außerhalb des Funktionierens der Justizverwaltung (im tradierten Sinne) steht. Darüber hinaus erscheint es evident, dass dieses Monitoring eine gravierende Konditionierung der Richter bei Ausübung ihrer Funktionen bewirken kann; insbesondere in Bezug auf die geplante Möglichkeit strafrechtlicher Konsequenzen.
Ein weiterer Prüfungspunkt war die Klagebefugnis des Ministers vor dem Verwaltungsgericht gegen Ernennungen von Vorsitzenden und Präsidenten (Dirigenti degli uffici giudizari). Dies widerspricht eindeutig Art. 134 der Verfassung, wonach der Verfassungsgerichtshof über Zuständigkeitsstreitigkeiten zwischen den Staatsorganen entscheidet, einschließlich folglich der Konflikte zwischen dem CSM und dem Justizminister betreffend die Bestätigung oder den Entzug von Leitfunktionen. In zahlreichen Urteilen hat der Verfassungsgerichtshof das festgehalten (379/1992; und insbesondere 380/2003).
(…)
Der vierte Punkt betrifft die Regelung der Einstellungs- und Beförderungsprüfungen (concorsi), die nicht nur die nationale Richtervereinigung ANM, sondern auch aufmerksame Verfassungsrechtler schon lange kritisiert haben, weil sie im Stande sind, die verfassungsmäßige Kompetenz des CSM aus Art. 105 bis zu dem Punkt zu entleeren, dass es ein „imago sine re“ wird oder – wie es der Staatspräsident ausdrückt -, die im Stande sind, die Aushöhlung der Zuständigkeit des CSM herbeizuführen. Zunächst stehe nach Art. 105 der Verfassung dem CSM die Entscheidung über die Einstellung, die Verwendung und Versetzung, die Beförderungen und die Disziplinarmaßnahmen in Bezug auf Richter (und StA) zu. Der Staatspräsident unterstreicht, dass die Zuständigkeiten durch das System des neuen Ermächtigungsgesetzes wesentlich verkürzt werden, indem es ins Zentrum jeder dieser Prüfungen die sog. „oberste Richterschule“ und zugeordnete Kommissionen stellt, die außerhalb des CSM eingerichtet werden. Darin liegt ein Übergriff in den Kompetenzbereich des CSM, der ganz besonders deutlich wird in Fällen, in denen Kandidaten durch die genannten neuen Strukturen ausgeschlossen werden, d.h. wo das Placet der Obersten Richterschule oder die günstige Bewertung der Kommission fehlt; dann kann das CSM den so ausgeschlossen Kandidaten nicht einmal in Erwägung ziehen.
Die Reform der Institutionen: Allmächtiger Premierminister und entmachtete Gegenkräfte
Hier legt Roberto Oliveri del Castillo dar, dass der Verfassungsbruch mit Hilfe der Gegenreform der Gerichtsverfassung (ordinamento giudiziario) sich in das noch deutlicher konturierte Projekt der Veränderung des Systems der Institutionen einfügt, das schon seit über 25 Jahren auf der Tagesordnung Italiens steht. Der Text des Gesetzes betreffend die „Modifizierung des zweiten Teils der Verfassung“, vom Senat am 23. März 2005 beschlossen, verändert die Staatsform und das System der checks and balances grundlegend. Oliveri beschränkt sich auf einige Hinweise zur Transformation der Regierungsform und auf die Verdrehungen, denen Rolle und Funktion des Staatspräsidenten und des Verfassungsgerichts unterworfen werden (klassische Staatsgewalten der Kontrolle der Legislative und der Exekutive, zusammen mit der Rechtsprechung).
Zunächst wird dem Prinzip des sog. perfekten Zwei-Kammer-Systems ein Ende gesetzt, d.h. der Art und Weise, Gesetze auf der Grundlage des übereinstimmenden Willens der zwei parlamentarischen Kammern zu beschließen (das jedenfalls bis jetzt auch die Proportionalität berücksichtigt hat, die Minderheiten angemessen repräsentiert). Die Parlamentskammern waren bisher der Konditionierung durch die Regierung und ihren Regierungschef entzogen, weil das Recht der Parlamentsauflösung dem Staatspräsidenten zustand. Sie könnten jetzt – entsprechend den Gesetzesprojekten – vorzeitig aufgelöst werden, wenn sie einen Gesetzentwurf des Premiers nicht teilen sollten, was auch ganz offensichtlich eine Entwertung des Gesetzesvorbehalts als Schutz-instrument für die Rechte der Bürger bedeutet. Auf diese Weise verändert sich die Form der Regierung und anstelle des aktuellen parlamentarischen Systems wird ein Regime eines „absoluten Premierministers“ (premierato assoluto) eingeführt, in dem der Ministerpräsident direkt von den Bürgern gewählt wird und sich verstärkter Macht sowohl innerhalb der Regierung (wo er Minister ernennen und entlassen kann), wie auch gegenüber dem Staatspräsidenten und dem Parlament erfreut (er kann nahezu zwingend dem Staatspräsidenten die Auflösung des Parlaments vorschlagen und die Vertrauensfrage bezogen auf einen gesamten Gesetzentwurf stellen, mit der Möglichkeit, die Auflösung des Parlaments im Fall der Niederlage zu verlangen. Der Staatspräsident kann einen solchen Vorschlag nur dann zurückweisen, wenn innerhalb von zehn Tagen die absolute Mehrheit der Abgeordneten der Kammer einen Vorschlag mit dem Namen des neuen Premierministers unterschreibt).
In diesem Zusammenhang liegt ein Wendepunkt auch darin, dass für die Wahl des Staatspräsidenten vom vierten Wahlgang an die absolute Mehrheit der Mitglieder der Versammlung der Republik ausreicht, mit indirekten aber offensichtlichen Folgen auch für das Verfassungsgericht: der Stärkung der Macht des Premierministers steht nicht die notwendige Stärkung der Kontrollorgane gegenüber. Daraus folgt zugleich die Möglichkeit, dass der Staatspräsident allein aus der Koalition kommt, die den Premierminister stellt und die auch auf die Mehrheit des Verfassungsgerichts zählen kann. Zu verschweigen sind auch nicht die Folgen des neuen Systems für das CSM und die „authorities“, deren Spitzen darauf reduziert werden, den Präsidenten der Republik zu benennen. Der Kreis schließt sich: Ein Staatspräsident, der mit einfacher Mehrheit gewählt wird und Repräsentant einer politischen Richtung ist; ebenso werden die kontrollierenden Kräfte von der politischen Mehrheit besetzt. So wird das Bild vollständig und die Inthronisierung des Ausnahmezustands vervollständigt. Leicht vorherzusehen, dass das zu einer Diktatur des Premierministers führt, dem entmachtete Gegenkräfte gegenüber stehen.
Oliveri stellt die Frage, ob sich eine solche Struktur noch im Geltungsbereich konstitutioneller Demokratien bewegt, die sich im Sinne von Montesquieu, von John Stuart Mill, von Tocqueville gebildet haben, oder schon außerhalb dessen, auf dem Wege, eine in der Welt einzigartige Machtkonzentration zu realisieren (vgl. Leopoldo Elia, „Eine in der Welt einzigartige Regierungsform“ in „Costituzione, Una Riforma Sbaglita“, Herausgeber F. Bassanini 2004, S. 363). Für viele sei dieser Bruch mit den Grundprinzipien der Verfassung evident bis zu dem Punkt, dass eine bonapartistische Reform verwirklicht werden soll, die man insgesamt ablehnen müsse. Andere schlagen ein softeres Modell gegen diesen Bruch vor, sie sehen noch Spielräume für die Verfassungsorgane, Staatspräsident, Verfassungsgericht, Gerichtsbarkeit und politische Kräfte, um die zerstörerische Essenz der Reform zu entkräften (M. Dogliani, op.cit. S. 120). Der Autor fährt im Abschnitt „Prinzipien der Verfassung und Demokratie“ fort, dass die Verfassung nicht nur das grundlegende Schema des Staates, die Grundnorm ist, die die Gesetzgebung leitet, sondern dass sie auch im Sinne eines modernen Institutionalismus die Charta der Prinzipien, Werte und Institutionen ist, der Ausdruck idealer Orientierungspunkte, in dem alle Bürger sich wegen elementarer Bedürfnisse des moralischen und materiellen Zusammenhalts wiedererkennen müssen. Leider zeigen die Fakten, dass keine Verfassung jemals allzu rigide ist, weil die grundlegenden Prinzipien auch im Sinne entstellender Modernisierungsvisionen oder als Entleerung der Prinzipien gelesen werden können.
Zu diesem Punkt stellt Oliveri folgende Überlegungen an: Die Prinzipien an sich sind weder richtig noch falsch: Entweder werden sie geteilt oder abgelehnt. Wenn es sich jedoch um Verfassungsprinzipien handelt, führt das Teilen oder Ablehnen zu unterschiedlichen System- und Wertentscheidungen. Die erste Option bewegt sich innerhalb der konstitutionellen Ethik, die zweite steht außerhalb. Die italienische Verfassung von 1947 unterscheidet sich von allen vorangehenden Europäischen Verfassungen gerade dadurch, sie enthält nicht nur Verfahrensregeln, die das Funktionieren der konstitutionellen Organe regeln, sondern auch die Betonung eines Komplexes von Prinzipien, die das konkrete Verhalten der Bürger leiten sollen, sowohl wenn sie als Einzelpersonen handeln, wie auch im Zusammenhang der Gemeinschaften, in denen sie operieren und deren wichtigste (aber nicht einzige) die staatliche Organisation ist.
Die Verbindlichkeit der Verfassung von 1947 setzt sich von der Flexibilität des Albertinischen Statuts und der Weimarer Verfassung ab. Die Ereignisse der letzten Jahre zeigen, dass auch unter einer verbindlichen Verfassung (costituzione rigida) die Prinzipien der Verfassung in ihrer Substanz entleert werden können, ohne dass sie formell modifiziert werden. Gegenüber den Risiken der Verletzung von Verfassungsvorschriften durch einfaches Gesetz und dem Umstand, dass der Verfassungsgerichtshof erst mit Zeitverzögerung und bereits eingetretenen Wirkungen entscheiden kann, müsste man über die Möglichkeit nachzudenken beginnen, die Anzahl der klagebefugten Subjekte vor dem Verfassungsgerichtshof auszudehnen und zwar bevor ein Gesetz in Kraft tritt – z.B. die parlamentarische Minderheit (oder andere repräsentative Einheiten) wie im französischen Modell oder auch der Staatspräsident, falls das Parlament ihm ein Gesetz wieder vorlegt, das er bereits wegen Verfassungswidrigkeit zurückgewiesen hat.
Es kann gar nicht genug Schutzmechanismen für die grundlegenden Freiheitsrechte geben gegenüber den Risiken, die sich in der Epoche der Videopolitik und der Videodemokratie immer deutlicher zeigen, in der Epoche der Tyrannen der Mehrheit. Dieses Übel wurde bereits im 19. Jahrhundert für sehr schwer gehalten, „indem es tief in das tägliche Leben eindringt und selbst die Seele zum Sklaven macht“ (vgl. John Stuart Mill „On liberty“, ins Italienische übersetzt als „Saggio Sulla Libertá“, veröffentlicht in „Il Saggiatore“, 1997, S. 7 ff.).
Dr. Roberto Oliveri del Castillo ist Richter in Trani (Apulien);
Dr. Sabine Stuth ist Richterin am Verwaltungsgericht Bremen.