Die Rechtsstellung der Richter und Staatsanwälte in Europa

Die Rechtsstellung der Richter und Staatsanwälte in Europa

Nicola Behrend, Richterin am Sozialgericht (Dortmund)

Die Rechtsstellung der Richter und Staatsanwälte in Europa

Zu diesem Thema richteten die Europäische Rechtsakademie, die Ecole Nationale de la Magistrature (französische Richterschule), die European Association of Judges (Europäische Richtervereinigung) und die Vereinigung Magistrats Européens pour la Démocratie et les Libertés – MEDEL – (Europäische Richter für Demokratie und Freiheitsrechte) vom 30.05. – 31.05.1996 eine Tagung aus. Ca. 170 Teilnehmer (überwiegend Richter und Staatsanwälte, aber auch Wissenschaftler und Mitarbeiter der Justizverwaltungen) aus 29 europäischen Ländern kamen in Paris zusammen. Ebenso wie die Europäische Richtervereinigung ist MEDEL als Nichtregierungsorganisation mit Beraterstatus beim Europarat in Straßburg anerkannt. Die Neue Richtervereinigung (NRV). und die Richter und Staatsanwälte in der ÖTV beteiligen sich an der Arbeit von MEDEL. Die Tagung fand mit Unterstützung und Beteiligung des Europarates statt.

Auf Anregung von MEDEL diskutierten die Teilnehmer über die Aus- und Fortbildung der Richter und Staatsanwälte sowie die sehr unterschiedliche Rechtsstellung von Richtern und Staatsanwälten in Europa. Die zahlreichen Länderberichte der vortragenden Wissenschaftler und Praktiker sowie die kontrovers und lebhaft geführten Diskussionen zeigten, daß viele – zumeist südeuropäische – Staaten zur Schaffung demokratischer Justizstrukturen, zur Garantie richterlicher Unabhängigkeit und zur effizienten Ausübung staatsanwaltschaftlicher Tätigkeit Elemente von Selbstverwaltung und Enthierarchisierung in der Justiz für erforderlich halten. Diese Regelungen sind mit einem Zurückdrängen des Einflusses der Justizverwaltungen verbunden.

Wahrung richterlicher Unabhängigkeit durch Schaffung von Selbstverwaltungsgremien = oberste Räte der Gerichtsbarkeit

Orlando Alfonso, Richter am Familiengericht in Lissabon, stellte einleitend fest, daß die politischen Wechsel nach Wiederherstellung der Demokratie in Portugal im Jahre 1974 auch auf das Justizsystem zurückgewirkt hatten. Der dort bestehende Oberste Rat der Gerichtsbarkeit sei demokratisiert worden und garantiere die Unabhängigkeit der Richter. Dieses Organ sei nach der portugiesischen Verfassung für die Ernennung, Zuweisung, Versetzung, Beurteilung und Beförderung der Richter sowie Disziplinarmaßnahmen zuständig. Daneben bestünden weitere Aufgaben, wie z.B. ein Vorschlagsrecht an den Justizminister zu verfahrensrechtlichen Gesetzesänderungen und die Durchführung von Untersuchungen über juristische Dienstleistungen. Wegen der Übernahme dieser Kompetenzen durch den Obersten Rat der Gerichtsbarkeit seien Hierarchien innerhalb eines Gerichts durch eine hervorgehobene Position der Präsidenten bzw. Vorsitzenden bei Beförderungen etc. nicht vorhanden. Dies trage zur Unabhängigkeit der Richter bei, da sich Unterschiede zwischen den Richtern nur aus der Verschiedenartigkeit ihrer Funktionen, nicht aus hierarchischen Abstufungen ergäben. Beförderungen seien nur auf die beiden Stufen des Appellationsgerichts oder des Kassationshofes möglich. Präsidenten und Vizepräsidenten der ersten Instanz würden jedes Jahr von den Richtern des jeweiligen Gerichts gewählt. In Kollegialgerichten führe jeder Richter bei mündlichen Verhandlungen den Vorsitz in den ihm zugeteilten Rechtsstreiten.

Der Oberste Rat der Gerichtsbarkeit bestehe aus sieben Parlamentsmitgliedern (nach Parteienproporz), zwei von dem Präsidenten der Republik benannten Richtern und sieben von der Gruppe der Richter selbst – zur Garantie eines institutionellen Pluralismus – nach dem Verhältniswahlrecht gewählten Richtern. Damit setze sich dieses Organ zwar mehrheitlich aus Richtern zusammen. Die Mitglieder des Obersten Rates der Gerichtsbarkeit seien andererseits jedoch nicht mehrheitlich von Richtern gewählt worden. Mit dieser Lösung wolle man die demokratische Legitimation des Gremiums erhöhen und die Herausbildung eines Korpsgeistes vermeiden. Mitglied und zugleich Vorsitzender des Obersten Rates der Gerichtsbarkeit sei der Präsident des Kassationshofes.

Ernst Markel, Richter am Obersten Gericht in Wien hielt es in seinem Vortrag zur Verantwortung des Richters für unzulässig, die Prüfung richterlicher Dienstpflichtverletzungen einem nicht nur aus Richtern bestehenden Organ zu übertragen. Gleichzeitig führte er aus, die dienstrechtlichen Folgen für richterliches Fehlverhalten dürften nur in einem Verfahren bestimmt werden, auf das die anderen beiden Staatsgewalten keinen Einfluß ausüben könnten. In allen Rechtsordnungen sei die richterliche Unabhängigkeit als Privileg nicht eines Berufsstandes, sondern der Rechtssuchenden festgeschrieben. Hieraus sei abzuleiten, daß der Richter auf eine parteipolitische Betätigung verzichten solle.

Carmona Ruano, Präsident des Landgerichts in Sevilla, betonte, jede Ausübung der disziplinarischen Gewalt über Richter beinhalte das Risiko, daß neben der Kontrolle der Unparteilichkeit und Sorgfalt auch der ideologische Inhalt von Entscheidungen überwacht werde. Wie in anderen europäischen Staaten sei zur Stärkung der richterlichen Unabhängigkeit gegenüber der Exekutive auch in Spanien ein spezielles Organ geschaffen worden, dem die disziplinarische Verantwortlichkeit über Richter ausschließlich anvertraut worden sei. Der seit 1978 in der Verfassung verankerte ìConsejo General del Poder Judicial“ bestehe aus zwölf Richtern und acht hochrangigen Juristen mit mindestens fünfzehnjähriger Berufserfahrung. Alle Mitglieder würden mit 3/5 Mehrheit von beiden Kammern des Parlaments, dem Kongreß und dem Senat gewählt. Die Amtsperiode dauere fünf Jahre. Es bestehe keine Wiederwahlmöglichkeit. Entscheidungen würden mit einfacher Mehrheit getroffen. Selbstverständlich beinhalte das Verfahren stets die Anhörung des betreffenden Richters und die Möglichkeit, gegen die Disziplinarmaßnahmen den Rechtsweg zur Verwaltungsgerichtsbarkeit zu beschreiten.

Valéry Turcey, Generalsekretär der L’Union Syndicale des Magistrats, führte aus, daß der in Frankreich bestehende und im Jahre 1993 reformierte Oberste Rat der Gerichtsbarkeit (Conseil Superior de la Magistrature) zwar nicht die Kompetenzen einer Justiz- bzw. Gerichtsverwaltung, jedoch das letzte Wort bei der Beförderung von Richtern und Staatsanwälten, deren Verteilung und Versetzung sowie in disziplinarischen Angelegenheiten habe. In der Regel werde den Vorschlägen des Justizministers gefolgt. Nach statistischen Angaben aus Juni 1995 habe der Oberste Rat in 40 von 1433 Ernennungen von Richtern (2,8%) und 16 von 513 Nomierungen von Staatsanwälten (3,2%) abweichende Stellungnahmen abgegeben. Das französische Organ setze sich zur einen Hälfte aus Richtern und Staatsanwälten, die von diesen Berufsgruppen gewählt wurden, sowie zur anderen Hälfte aus Vertretern der Exekutive zusammen. Französische Tagungsteilnehmer, die Mitglieder der linken Richterorganisation Syndikat de la magistrature sind, wiesen darauf hin, daß ihre Organisation die Wahlen zum neu geschaffenen Obersten Rat der Gerichtsbarkeit in Frankreich boykottiert habe. Das neu eingeführte Wahlsystem stelle nicht sicher, daß auch Minderheiten repräsentiert seien. Bereits bei einer Stimme Mehrheit gingen alle Sitze an die von den Richtern mehrheitlich gewählte konservative Richterorganisation L’Union Syndicale des Magistrats.

Ausbildung, Einstellung und berufliches Fortkommen der Richter

Valéry Turcey erläuterte, 80 % der französischen Richter seien Absolventen der Ecole Nationale de la Magistrature. Absolventen eines Rechtsstudiums, die sich um eine Ausbildung in der Schule bewerben, müßten vor einer unabhängigen Jury (bestehend aus Universitätsprofessoren, Richtern, hohen Funktionären und außenstehenden Personen) eine schriftliche und mündliche Prüfung ablegen. Jährlich stünden etwa 2000 bis 2500 Bewerbern nur ca. 100 Plätzen gegenüber. Nach bestandenem Examen entscheide der Oberste Rat der Gerichtsbarkeit über die Verteilung der dann etwa 25 Jahre alten Richter auf die freien Richterstellen.

Claude Parmentier, Richter am Kassationshof in Belgien und Präsident des Collège de recrutement des magistrats, betonte, das belgische System der Richterauswahl lege Wert auf die Heranziehung von berufserfahrenen Juristen. Neben einem dreijährigen Vorbereitungslehrgang für Absolventen eines Rechtsstudiums und einer speziellen Zulassungsprüfung, die ähnlich wie in Frankreich eine theoretische Ausbildung und praktische Teile umfasse, bestehe für Juristen mit mehrjähriger Berufserfahrung (hauptsächlich in der Anwaltschaft) die Möglichkeit, über eine Eignungsprüfung zum Richter ernannt zu werden. Die Verantwortlichkeit für die Durchführung der Zulassungs- und Eignungsprüfung liege bei dem mit Gesetz vom 18.07.1991 geschaffenen Kollegium zur Auswahl von Richtern und Staatsanwälten, welches aus zweiundzwanzig vom Parlament gewählten Mitgliedern bestehe (zehn Richter und Staatsanwälte, sechs Universitätsprofessoren und sechs Anwälte). Zur Umsetzung der vom Europarat geforderten Unabhängigkeit der Einstellungs- und Beförderungsentscheidungen von Regierung und Exekutive seien Beratungskomitees (comités d’avis) geschaffen worden. Diese gäben Hinweise und Stellungnahmen zur Ernennung und Beförderung von Richtern. Die MEDEL- angehörende belgische Richterorganisation Assoviation Syndicale des Magistrats kritisiere zu Recht die hierarchische Zusammensetzung dieser Komitees, die mit Richtern und Staatsanwälten oberster Hierarchiestufen besetzt seien. Hierdurch werde nicht gewährleistet, daß sich die Vielfältigkeit der Gesellschaft auch in der Richterschaft widerspiegele. Das Gesetz vom 18.07.1991 habe lediglich den Zugang zur Justiz reformiert. Erforderlich sei die Schaffung eines Obersten Rates der Gerichtsbarkeit nach dem Vorbild anderer europäischer Länder.

Wie Paul Broekhoven, Präsident des Appellationsgerichtes in Utrecht, hervorhob, wird auch in den Niederlanden auf eine ausgewogene Zusammensetzung der Richterschaft aus jungen und berufserfahrenen Richtern geachtet, indem zu 50 % Juristen mit mindestens sechsjähriger Berufserfahrung und einjähriger Tätigkeit als stellvertretender Richter bzw. Staatsanwalt bei Empfehlung durch ein Auswahlkomitee ernannt würden. Absolventen eines Jurastudiums, die den Richterberuf anstrebten, müßten vor Aufnahme eines sechsjährigen Praxis und Theorieausbildungsprogramms ein Auswahlverfahren durchlaufen. Dies bestehe aus einem Intelligenz- und Persönlichkeitstest sowie einem Verfahren vor einer Auswahlkommission. Die aus drei Richtern, einem Repräsentanten des Justizministeriums und einem Außenstehenden zusammengesetzte Auswahlkommission entscheide unter Berücksichtigung der Kriterien Intelligenz und analytische Fähigkeiten, Ergebnisse des juristischen Studiums, Persönlichkeit, Kommunikationsfähigkeit, Belastbarkeit, Standhaftigkeit und Entschlossenheit abschließend über die Zulassung. Nach sechsjähriger Ausbildung erfolge wie bei den berufserfahrenen Juristen eine einjährige Ausbildung an einem Gericht, bevor der Justizminister auf Empfehlung des betreffenden Gerichts den Richter endgültig ernenne. Die Ausbildungsprogramme würden von dem niederländischen Studiencenter für die Richterschaft durchgeführt. Dies sei eine unabhängige Stiftung mit eigenem Etat.

Rechtsstellung der Staatsanwälte

Victor Weber, Oberstaatsanwalt in Berlin, führte aus, die Staatsanwaltschaften seien nicht als Verwaltungsbehörden anzusehen, sondern wegen ihrer „Kontroll- und Hemmfunktion“ gegenüber der rechtsprechenden Gewalt eng mit dieser verzahnt. Gegen eine unabhängige Staatsanwaltschaft spreche die erforderliche Verantwortlichkeit gegenüber dem Volk, also gegenüber dem Parlament. Wer für die Durchsetzung des strafrechtlichen Gesetzeswillens verantwortlich sei, könne nicht der dritten Gewalt, sondern nur der zweiten Gewalt angehören. Mit dieser Rechenschaftspflicht des Vorgesetzten seien das Weisungs- sowie das Devolutions- und Substitutionsrecht zwingend verbunden. Bei Weisungen bestehe die Befürchtung, daß die Staatsanwaltschaft mit bestimmten politischen Absichten und sachfremden Erwägungen mißbraucht werden könne, ohne sich zu wehren. Dies sei ein generelles Problem, da der Mißbrauch staatlicher Macht überall möglich sei, wo der persönliche Widerstand schwach sei. Im Bereich von Opportunitäts- und Zweckmäßigkeitsentscheidungen sei das Weisungsrecht durch das Devolutions- und Substitutionsrecht zu ersetzen.

Dagegen betonte Eduardo Maia Costa, stellvertretender Generalstaatsanwalt beim Appellationsgericht in Lissabon, das Erfordernis der Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaft von der Exekutive, wie sie in der von MEDEL am 02.03. 1996 beschlossenen „Grundsatzerklärung zur Staatsanwaltschaft“ (in diesem Heft) niedergelegt worden sei. Die der Staatsanwaltschaft allgemein zugeschriebene Funktion, ihre Tätigkeit nach den Kriterien von Gesetzmäßigkeit, Unparteilichkeit und Objektivität auszuüben, lasse sich in der Konsequenz nicht mit einer Abhängigkeit von der Exekutive in Einklang bringen. Als Organ der Rechtspflege habe die Staatsanwaltschaft in gleicher Weise wie die Richterschaft ausschließlich die korrekte Anwendung des Gesetzes und des Rechts nach vorbestimmten juristischen Kriterien zu überwachen, nicht jedoch an der Gestaltung einer von der Exekutive bestimmten Richtung von Kriminal- und Sicherheitspolitik mitzuwirken. Wenn gegen eine unabhängige Staatsanwaltschaft eingewandt werde, diese mache es für die Regierung unmöglich, ihre Kriminalpolitik in die Praxis umzusetzen, so sei zu entgegnen, daß die Kriminalpolitik dem Gesetzgeber zukomme, der die Straftatbestände im einzelnen festlegen müsse. Kriminalpolitik sei die Definition der Politik in Gesetzen, nicht hingegen das Einwirken der Exekutive im Gerichtssaal. Auch das immer wieder gehörte Argument, die Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaft verstoße gegen das Demokratieprinzip, sei unzutreffend. An demokratischer Legitimation mangele es nur dann, wenn die Staatsanwaltschaft nach freiem Ermessen und nach dem Opportuntitätsprinzip handele. Dies sei tatsächlich nicht der Fall, da eine enge Bindung an die im Gesetz vorgegebenen Kriterien bestehe und das Opportunitätsprinzip nur für Bagatellkriminalität unter der Voraussetzung gelten dürfe, daß die Kriterien für dessen Anwendung durch Gesetz festgelegt seien und ihre Einhaltung strenger richterlicher Kontrolle unterliege. Schließlich sei es auch erforderlich, daß der Gesetzgeber selbst definiere, wie er mit zunehmender Kriminalität und einem ansteigenden Interventionsbedarf der Staatsanwaltschaften umgehen wolle. Der Regierung sei nicht berechtigt, hier über ein Einwirken auf die Staatsanwaltschaft Steuerungsfunktionen auszuüben. Die Bekämpfung der Kriminalität diene dem Schutz elementarer Werte wie der Freiheit und Sicherheit der Person und dürfe nicht am Zeitgeist oder am Opportunitätsprinzip ausgerichtet sein.

Costa wies weiter darauf hin, mit dem Interventionismus des modernen Staates seien immer häufiger Situationen illegalen Verhaltens von Vertretern der Exekutive, oft auf höchster Stufe des Staatsapparates, verbunden. Die Bekämpfung von Korruption sei zu einem entscheidenden Thema des zeitgenössischen Staates geworden, weil sie das Funktionieren der Demokratie und die Gleichheit des Bürgers vor dem Gesetz in Frage stelle. Ein effektives Vorgehen gegen Korruption erfordere eine autonome Staatsanwaltschaft, da direkter oder indirekter Druck durch die Exekutive sowie die Befürchtung der Staatsanwälte, ihre Karriere bei zu gewagten Handlungen zu gefährden, keine Hypothesen, sondern reale Hindernisse für die Verfolgung dieser gravierenden Art von Kriminalität darstellten.

Die nach allem erforderliche Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaft von der Exekutive bedingt nach Auffassung von Costa die Schaffung eines Obersten Rates, der für die Ernennung der Staatsanwälte, die Überwachung ihrer Tätigkeit, die Koordination und eventuell die Ausgabe von generellen Weisungen zuständig sei. Dieser müsse seine Legitimation aus einer gemischten Zusammensetzung gewinnen. Dem Obersten Rat sollten Vertreter der anderen Staatsgewalten und aus der Staatsanwaltschaft nach dem Verhältniswahlsystem gewählte Vertreter angehören.

Ausblick

Bereits die einführenden Stellungnahmen der Präsidenten der beiden Richterorganisationen machten die Differenzen in Selbstverständnis und inhaltlicher Ausrichtung beider Organisationen deutlich. Während die Präsidentin der European Association of Judges Girard-Thuilier entsprechend dem Inhalt der von ihrer Organisation erarbeiteten ìJudges’Charter in Europe“ betonte, Richter dürften nicht Vertreter einer bestimmten Politik sein und müßten sich demzufolge von politischen Parteien und Interessengruppen fernhalten, verwies der Präsident von MEDEL, Heinz Stötzel, auf den politischen Gehalt eben dieser Aussage. Die Debatte über die Rolle der Rechtsprechung im demokratischen Rechtsstaat sei notwendigerweise eine politische, da ein ständiges Spannungsverhältnis zwischen der Unabhängigkeit der Justiz und dem Einfluß- und Kontrollbegehren der Exekutive bestehe.

Dementsprechend enthalten die im Januar 1993 auf der Konferenz der MEDEL in Palermo verabschiedeten ìElemente eines europäischen Richterstatuts“ (1) u.a. Regelungen zur Schaffung eines Obersten Rates der Gerichtsbarkeit, zum rotierenden Vorsitz, zu einem einheitlichen Richteramt und zu Grundrechten der Richter. Die am 02.03.1996 in Neapel beschlossene ìGrundsatzerklärung zur Staatsanwaltschaft“ fordert u.a die Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaft von der Exekutive und deren Selbstverwaltung durch einen unabhängigen Rat.

Abzuwarten bleibt, ob und inwieweit es gelingt, diese Forderungen zur Ausgestaltung eines europäischen Richter- und Staatsanwältestatuts umzusetzen. Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang daran, daß das Ministerkomitee des Europarates 1994 Empfehlungen zu Unabhängigkeit, Leistungsfähigkeit und Rolle der Richter verabschiedet hat (Recommendation No.R (94) 12 of the Committee of Ministers to member states on independence, efficiency and role of judges vom 13.10.1994). In Übereinstimmung mit den von MEDEL erhobenen Forderungen enthalten diese den Grundsatz, daß die für Auswahl und Karriere von Richtern zuständige Stelle unabhängig von Regierung und Verwaltung sein soll. Weiter ist zur Sicherstellung der Unabhängigkeit dieses Gremiums vorgesehen, daß dessen Mitglieder durch die Richterschaft gewählt werden und es sich selbst Verfahrensregelungen gibt (Principle I General Principles on the independence of judges).

Als Vertreterin des Europarates betonte Frau Wisniewska-Cazals in ihrem Schlußwort, es sei beachtlich, daß erstmals eine solche Tagung in Zusammenarbeit von MEDEL, der European Association of Judges, der Ecole Nationale de la Magistrature und der Europäischen Rechtsakademie organisiert worden sei. Der Europarat werde ausgehend von den Vorarbeiten der beiden europäischen Richterorganisationen eine Arbeitsgruppe zur Schaffung eines einheitlichen Statuts für Richter und Staatsanwälte in Europa einrichten.

(1) (BJ Nr. 33, S. 26: Elemente eines europäischen Richterstatuts)

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Aus: Betrifft JUSTIZ Nr. 47 – September 1996, Seite 348 ff.