Europarat

Europäische Charta über die Rechtsstellung der Richterinnen und Richter

 

Im Hinblick auf Art. 6 der [europäischen] Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK), wonach jedermann Anspruch darauf hat, daß seine Sache in billiger Weise öffentlich und innerhalb einer angemessenen Frist gehört wird, und zwar von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht;

im Hinblick auf die von der Generalversammlung der Vereinten Nationen im November 1985 gebilligten Grundsätze über die Unabhängigkeit der Richter;

mit Bezug auf die Empfehlung Nr. R (94)12 des Ministerrats über die Unabhängigkeit und Wirksamkeit und die Rolle der Richter;

im Bestreben, die für die Vorherrschaft des Rechts und den Schutz der Menschenrechte im demokratischen Rechtsstaat nötige Unabhängigkeit der Richter und Richterinnen zu stärken;

im Bewußtsein der Notwendigkeit, allen europäischen Staaten ein Instrument an die Hand zu geben, durch welches die besten Garantien für die Kompetenz, Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Richterinnen und Richter präzisiert werden;

in der Hoffnung, daß die Richterstatute der verschiedenen Staaten diese Regelungen beherzigen, um das höchstmögliche Niveau an Garantien zu gewährleisten,

haben die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der vom Europarat organisierten internationalen Versammlung in Straßburg vom 8. bis 10. Juli 1998 diese Europäische Charta über das Richterstatut beschlossen:

 

1. Allgemeine Grundsätze

1.1. Das Richterstatut soll die Kompetenz, Unabhängigkeit und Unparteilichkeit gewährleisten, die jedermann legitimerweise von den Gerichten und allen Richterinnen und Richtern erwartet, denen der Schutz seiner Rechte anvertraut ist. Es schließt jede Regelung und jede Verfahrensweise aus, die geeignet ist, das Vertrauen in diese Kompetenz, Unabhängigkeit und Unparteilichkeit zu beeinträchtigen. Diese Charta enthält nachfolgend die Regelungen, die am besten geeignet sind, die Verwirklichung dieser Ziele zu gewährleisten. Der Zweck dieser Regelungen ist es, das Niveau der Garantien in den verschiedenen europäischen Staaten zu heben. Sie können nicht zur Rechtfertigung für nationale Rechtsänderungen dienen, die den Zweck haben, ein bereits erreichtes Niveau wieder abzusenken.

1.2. In jedem europäischen Staat sollen die grundlegenden Prinzipien des Richterstatuts in der Verfassung verankert, die Detailregelungen mindestens auf Gesetzesebene umgesetzt werden.

1.3. Für jede Entscheidung über die Auswahl, die Einstellung, die Ernennung, die Beförderung oder die Dienstenthebung eines Richters oder einer Richterin sieht das Statut die Beteiligung einer von der Exekutive und Legislative unabhängigen Instanz vor, der wenigstens zur Hälfte Richterinnen oder Richter angehören, die aus der Richterschaft nach einem möglichst repräsentativen Wahlmodus gewählt werden.

1.4. Das Statut bietet allen Richterinnen und Richtern die Möglichkeit, gegen jede Bedrohung ihrer Rechtsstellung, ihrer Unabhängigkeit oder Unabhängigkeit der Justiz eine solche unabhängige Instanz anzurufen, die ihrerseits über wirksame Möglichkeiten verfügt, abzuhelfen oder Abhilfe vorzuschlagen.

1.5. Bei der Ausübung ihres Amtes müssen der Richter oder die Richterin für die Menschen erreichbar sein, ihnen Respekt entgegenbringen und bestrebt sein, das unter allen Umständen für die Entscheidungen, von denen die Garantien der Rechte des Einzelnen abhängt, erforderliche hohe Maß an Kompetenz zu erhalten, und die ihnen gesetzlich anvertrauten Geheimnisse zu wahren.

1.6. Der Staat ist verpflichtet, der Richterin und dem Richter die Mittel bereitzustellen, die sie benötigen, um ihre Aufgaben gut und innerhalb angemessener Frist zu erfüllen.

1.7. Die Richterinnen und Richter haben das Recht, Berufsorganisationen zu gründen und sich ihnen anzuschließen, um die ihnen nach ihrem Statut zustehenden Rechte zu verteidigen, insbesondere gegenüber den Behörden und Instanzen, die an den die Richterinnen und Richter betreffenden Entscheidungen beteiligt sind.

1.8. Die Richterinnen und Richter beteiligen sich durch ihre Vertreterinnen und Vertreter sowie durch ihre Berufsorganisationen an den Entscheidungen über die Verwaltung der Gerichte sowie die Festlegung und Verteilung der Mittel auf nationaler und örtlicher Ebene. In gleicher Weise werden sie angehört bei geplanten Änderungen ihrer Rechtsstellung, Besoldung oder sozialen Absicherung.

2. Auswahl, Einstellung, Ausbildung

2.1. Bezüglich Auswahl und Einstellung der Richterinnen und Richter sieht das Statut die Entscheidung durch eine unabhängige Instanz oder Jury vor. Maßgeblich ist die Fähigkeit der Bewerberinnen und Bewerber, über die ihnen unterbreiteten Rechtsfälle frei und unparteiisch und in der Achtung vor der Würde der Personen zu entscheiden. Die Regeln über Auswahl und Einstellung schließen es aus, daß Bewerberinnen oder Bewerber wegen ihres Geschlechts, ihrer ethnischen oder sozialen Herkunft oder wegen ihrer philosophischen, politischen oder religiösen Überzeugungen abgewiesen werden.

2.2. Das Statut regelt, in welcher Weise durch Examen oder zuvor erworbene Erfahrung die Eignung für die Erfüllung der richterlichen Aufgaben gewährleistet wird.

2.3. Das Statut sieht vor, daß der Staat durch eine geeignete Ausbildung die ausgewählten Bewerberinnen und Bewerber auf eine effektive Erfüllung ihrer Aufgaben vorbereitet. Die unter Ziffer 1.3 genannte Instanz wacht darüber, daß die Ausbildungsprogramme und Ausbildungsstrukturen den mit den richterlichen Aufgaben verbundenen Erfordernissen der Offenheit, Kompetenz und Unparteilichkeit genügen.

3. Ernennung, Unversetzbarkeit

3.1. Die Entscheidung über die Ernennung einer ausgewählten Bewerberin oder eines ausgewählten Bewerbers zur Richterin oder zum Richter und die Entscheidung über die Zuweisung an ein Gericht wird von der in Ziffer 1.3 genannten unabhängigen Instanz oder auf ihren Vorschlag, ihre Empfehlung, mit ihrer Zustimmung oder nach ihrer Anhörung getroffen.

3.2. Das Statut legt fest, unter welchen Voraussetzungen frühere Aktivitäten einer Bewerberin oder eines Bewerbers oder ihnen nahestehender Personen objektiv Zweifel an ihrer Unparteilichkeit und Unabhängigkeit begründen und damit ihrer Zuweisung an ein bestimmtes Gericht entgegenstehen können.

3.3. Wenn die Laufbahnvorschriften eine – notwendigerweise kurze – Probezeit zwischen der ersten Übertragung eines Richteramtes und der Ernennung auf Lebenszeit oder die Möglichkeit – der gegebenenfalls mehrmaligen – Ernennung auf Zeit vorsehen, darf die Entscheidung gegen die Ernennung auf Lebenszeit oder gegen die erneute Ernennung auf Zeit nur von der in Ziffer 1.3 genannten unabhängigen Instanz oder auf ihren Vorschlag oder nach ihrer Anhörung getroffen werden. Die in Ziffer 1.4 vorgesehenen Regelungen gelten auch für die Probezeit.

3.4. Richterinnen und Richter, die ihr Amt an einem Gericht ausüben, können ohne ihre freie Zustimmung nicht anderweitig ernannt oder zugewiesen werden. Das gilt auch für Beförderungen. Ausnahmen sind nur für den Fall der Versetzung als Disziplinarstrafe zulässig, weiterhin für den Fall der gesetzlichen Neuorganisation der Gerichte und als zeitlich begrenzte Zuweisung zur Entlastung eines benachbarten Gerichts, wobei die zulässige Dauer durch das Statut streng zu begrenzen ist, unbeschadet der in Ziffer 1.4 vorgesehenen Regelungen.

4. Die Laufbahn

4.1. Soweit ein Beförderungssystem nicht auf dem Anciennitätsprinzip beruht, dürfen nur in der Ausübung des Richteramts festgestellte Fähigkeiten und Verdienste maßgeblich sein, die in einer von einem oder mehreren Richterinnen oder Richtern vorgenommenen und mit dem betreffenden Richter oder der betreffenden Richterin erörterten objektiven Auswertung festgestellt worden sind. Entscheidungen über Beförderungen werden von der in Zifffer 1.3 genannten unabhängigen Instanz oder auf ihren Vorschlag oder mit ihrer Zustimmung getroffen. Richterinnen und Richter, die nicht für eine Beförderung vorgeschlagen sind, müssen die Möglichkeit haben, sich bei dieser Instanz zu beschweren.

4.2. Richterinnen und Richtern steht es frei, sich außerdienstlich zu betätigen. Hierzu gehört auch die Wahrnehmung ihrer Rechte als Bürgerinnen und Bürger. Diese Freiheit darf nur eingeschränkt werden, soweit die außerdienstlichen Aktivitäten mit dem Vertrauen in die Unparteilichkeit und Unabhängigkeit oder der für eine gewissenhafte und zügige Erledigung der Aufgaben erforderlichen Verfügbarkeit unvereinbar sind. Entgeltliche Nebentätigkeiten mit Ausnahme literarischer und künstlerischer Betätigung bedürfen einer vorherigen Genehmigung nach von dem Statut festgelegten Grundsätzen.

4.3. Richterinnen und Richter müssen sich stets so verhalten, daß das Vertrauen in ihre Unparteilichkeit und Unabhängigkeit nicht beeinträchtigt wird.

4.4. Das Statut gewährleistet dem Richter und der Richterin die Pflege und Vertiefung der für die Ausübung des Amtes erforderlichen technischen, sozialen und kulturellen Kenntnisse durch den geregelten Zugang zu Fortbildungsveranstaltungen, deren Finanzierung und Organisation nach Maßgabe von Ziffer 2.3 dem Staat obliegt.

5. Verantwortlichkeit

5.1. Verstöße gegen die im Statut ausdrücklich geregelten Pflichten dürfen nur durch Entscheidung, auf Vorschlag oder Empfehlung oder mit Zustimmung eines Gerichts oder einer Instanz geahndet werden, die mindestens zur Hälfte aus gewählten Richterinnen oder Richtern besteht. Das Verfahren muß kontradiktorisch sein, und der oder die Beschuldigte muß das Recht auf einen Beistand haben. Die Rangfolge der in Betracht kommenden Sanktionen muß im Statut festgelegt sein und ihre Anwendung den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachten. Gegen Disziplinarentscheidungen eines Organs der Exekutive, eines Gerichts oder einer vorstehend genannten Instanz kann ein Rechtsmittel zu einer übergeordneten gerichtlichen Instanz eingelegt werden.

5.2. Verursacht ein Richter oder eine Richterin durch fehlerhafte Amtsausübung einen Schaden, so haftet hierfür der Staat. Das Statut kann einen begrenzten Rückgriffsanspruch für den Fall grober und unentschuldbarer Unkenntnis der bei der Amtsausübung maßgeblichen Rechtsvorschriften vorsehen. Die Geltendmachung dieses Anspruchs bedarf der vorherigen Zustimmung der in Ziffer 1.3 genannten Instanz.

5.3. Jeder Mensch hat das Recht, sich formlos bei einem unabhängigen Organ darüber zu beschweren, daß die Justiz in einem bestimmten Falle ihre Aufgabe nicht erfülle. Ergibt eine gründliche Prüfung unzweifelhaft ein richterliches Fehlverhalten im Sinne von Ziffer 5.1, so kann das genannte Organ eine Disziplinarmaßnahme ergreifen oder bei der nach dem Statut zuständigen Disziplinarinstanz anregen.

6. Vergütung, soziale Sicherung

6.1. Die berufliche Tätigkeit der Richterinnen und Richter erfordert eine Vergütung, deren Höhe sie vor Beeinträchtigungen ihrer Unabhängigkeit und Unparteilichkeit und vor Einflüssen auf ihre Entscheidungen und ihr richterliches Verhalten bewahrt.

6.2. Das Entgelt kann gemäß dem Dienstalter, den übertragenen richterlichen Funktionen oder deren nach transparenten Kriterien überprüfbarer Wichtigkeit abgestuft werden.

6.3. Das Statut gewährleistet den Berufsrichterinnen und -richtern Vorsorge für die mit Krankheit, Mutterschaft, Invalidität, Alter und Tod verbundenen sozialen Risiken.

6.4. Insbesondere gewährt das Statut den Richterinnen und Richtern beim gesetzlichen Ausscheiden nach einer bestimmten Zahl von Dienstjahren ein Ruhegehalt, dessen Höhe dem letzten Entgelt möglichst nahe kommen soll.

7. Ausscheiden

7.1. Die Richterin oder der Richter scheidet aus dem Amt durch Rücktritt, ärztlich festgestellte physische Dienstunfähigkeit bei Erreichen der Altersgrenze, zum Ende ihrer gesetzlich vorgesehenen Amtszeit oder durch Dienstenthebung im Rahmen eines Verfahrens gemäß Ziffer 5.1.

7.2. Das Vorliegen einer der unter Ziffer 7.1 genannten Voraussetzungen – mit Ausnahme der Altersgrenze und des Ablaufs der gesetzlich vorgesehenen Amtszeit – muß von der unter Ziffer 1.3 genannten Instanz festgestellt werden.

Übersetzung aus dem Französischen: Christoph Strecker (Zeitschrift Justiz Heft 60 Seite 162 ff.)

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