Kurt Biedenkopf

Fortschritt in Freiheit

Aus dem Text:

„…. Die Stellung des Parlaments als dem eigentlichen Ort der Darstellung existentieller Ziele der organisierten Gesellschaft muß gestärkt und damit von der Exekutive unabhängiger gestaltet werden. Das allgemeine Wohl, dessen Definition, Beschreibung und Fortentwicklung letztlich im Parlament stattzufinden hat, kann nicht zum Gegenstand eines sogenannten „freien Spiels der Kräfte“ zwischen der Regierung und organisierten Gruppen werden. Das Volk, von dem nach unserer Verfassung alle Staatsgewalt auszugehen hat, kann sich in der Meinungsbildung eines Parlaments nur dann wiedererkennen, wenn dieses frei ist, den Inhalt der Solidarität des Ganzen verbindlich zu formulieren ….“

Auszug (Kurzzitat) aus

Kurt H. Biedenkopf

Fortschritt in Freiheit
Umrisse einer politischen Strategie

R. Piper & Co. Verlag München 1974

Seite 174 ff.

X. Strukturprinzipien einer freiheitlichen Gesellschaft

Die Fähigkeit staatlich verfaßter Gesellschaft, den Wandel in Freiheit zu beherrschen, ist nicht nur von der Garantie ihrer Wertordnung, sondern gleichermaßen vom Charakter der gesellschaftlichen Strukturen abhängig. Damit sind die organisatorischen und institutionellen Vorkehrungen gemeint, deren sich die Gesellschaft bedient, um ihre Aufgaben zu bewältigen.

Die Ansprüche, die an diese Strukturen zu stellen sind, ergeben sich aus der existentiellen Aufgabe einer Gesellschaft im Wandel: Anpassung an eine sich rapide verändernde Umwelt ohne Gefährdung des gesellschaftlichen Gleichgewichts. Anders ausgedrückt: Die Erschütterungen zu bewältigen, die durch die Dynamik der Entwicklung ausgelöst werden, ohne die Fähigkeit zu verlieren, die innere Stabilität der Gesellschaft stets neu zu gewinnen. Gefordert ist eine Strukturreform durch eine Fortentwicklung unserer Institutionen und Vorkehrungen, die uns in die Lage versetzen, externe Einflüsse aufzufangen, zu absorbieren und damit zu kontrollieren.

I. Offenheit und Dezentralisation

Beherrscht wird diese Strukturreform der gesellschaftlichen Institutionen durch zwei Prinzipien: das Prinzip der Offenheit und das Prinzip der Dezentralisation. Offenheit der Strukturen bedeutet: Die Organisation gesellschaftlicher Sachverhalte muß so beschaffen sein, daß sie die Entwicklung von Alternativen zu vorhandenen Problemlösungen gestattet. Sie muß die Kontrolle der Leistungsfähigkeit unterschiedlicher Antworten auf neue Fragestellungen durch Konkurrenz ermöglichen und die Entwicklung und Fortschreibung gesellschaftlicher Besitzstände verhindern. Sie soll der einfacheren gegenüber der komplexeren Organisation den Vorzug geben und damit zur Entbürokratisierung der Gesellschaft beitragen. Auf diese Weise wird sie Neuerungen und Initiativen fördern und damit die Dynamik der gesellschaftlichen Entwicklung der der Entwicklung der Umwelt angleichen.

Dezentralisation der Strukturen bedeutet: Das Subsidiaritätsprinzip muß bei der Ausgestaltung der Institutionen, der Planungs- und Lenkungsmechanismen und der Organisation gesetzlicher Arbeitsteilung zielbewußt verwirklicht werden. Die sachverhaltsnahe Organisations- und Planungszuständigkeit verdient – wo immer dies möglich ist – den Vorzug vor der zentralistischen. Alle Chancen zur Dezentralisation, die sich aus der Entwicklung der modernen Technologie der zweiten industriellen Revolution ergeben, müssen ausgeschöpft werden. Die Koordination der gesellschaftlichen Kooperation muß, soweit möglich, rational, nicht hierarchisch gestaltet werden. Das Verhältnis zu staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen muß bestimmt sein von einer Form der Arbeitsteilung, die dem Staat primär die Formulierung und Festlegung der gesellschaftlichen Ziele und Aufgaben, die Bereitstellung des institutionellen Instrumentariums und die Sicherung der Rahmenbedingungen überträgt. Den gesellschaftlichen Einrichtungen behält sie die Durchführung und Erreichung der vorgegebenen Ziele unter Bedingungen vor, die die Einhaltung der Zielvorgaben, die Bewältigung der gestellten Aufgaben und die Leistungsfähigkeit der Einrichtungen kontrollierbar macht.

a. Einfachheit, Elastizität und Flexibilität

Bei der Anwendung beider Grundsätze kommt dem Gesichtspunkt der Vereinfachung gesellschaftlicher Problemlösungen und Strukturen besondere Bedeutung zu. Die Forderung nach Abbau von Autorität, die die Regierbarkeit unseres Landes bedroht, ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, daß die Komplexität der Teilbereiche es unmöglich macht, menschliche Autorität noch als solche zu erfahren. Der mit der Autorität der Zuständigkeit ausgestattete Beamte, Funktionär, Betriebsleiter oder Vorstand verschwindet hinter der Wand anonymer Bürokratien. Seine Unsichtbarkeit, die Unmöglichkeit, ihn noch als Person zu erfahren und damit menschliche Autorität als zwischenmenschliche Beziehung zu erleben, der fehlende Einblick in die Gründe seiner Handlungsweise und die mangelhafte Information über die Rationalität seines Handelns fördern den Versuch, diese Wand mit der Forderung nach plebiszitärer Mitwirkung zu durchbrechen. Aber solche Versuche, der Anonymität und Undurchsichtigkeit bürokratischer Prozesse durch „Basisdemokratie“ zu begegnen, sind zum Scheitern verurteilt. Denn die Anonymität ist nicht die Folge verlorengegangener Verantwortung, sondern die Konsequenz der bestehenden Strukturen.

Nur durch eine Vereinfachung der gesellschaftlichen Sachverhalte wird es möglich sein, Anonymität abzubauen und dadurch die Voraussetzung für die Anerkennung sachlich legitimer Autorität zurückzugewinnen. Wer anonym handelt, handelt für den Betroffenen nicht mehr erkennbar sachbezogen. Aus der Sicht des Betroffenen handelt er zunehmend in einem allgemeinen politischen Raum. Die Folge ist, daß das Handeln der entrückten Bürokratie, des entrückten Vorstandes, des entrückten Gewerkschaftsführers von den Betroffenen als Vorgang begriffen wird, der sich im Bereich politischer Beliebigkeit vollzieht und den sie deshalb mit politischen Mitteln zu kontrollieren wünschen. Diese Entwicklung gefährdet nicht nur die Funktionsfähigkeit der betroffenen Institutionen, sondern sie gefährdet vor allem die Anwendung der Sachgesetze, die ihr Handeln bestimmen muß, wenn es zweckgerichtet und unter dem Gesichtspunkt der Zweckverwirklichung kontrollierbar bleiben soll.

Wir können ihr nur begegnen, wenn es uns gelingt, die Komplexität der gesellschaftlichen Institutionen und Veranstaltungen durch die Entflechtung der gesellschaftlichen Teilbereiche abzubauen. Wir müssen neue Formen und Strukturen menschlicher Zusammenarbeit finden, wenn wir nicht an der Überorganisation der bestehenden Strukturen ersticken wollen. Wir müssen durch den Abbau dieser Überorganisationen die Voraussetzungen dafür schaffen, auch einen Teil der institutionellen Kontrollvorkehrungen abzubauen, die wir heute im Zusammenhang mit der Gewährung von Entscheidungsautorität für notwendig halten und die ein immer größeres Maß an Führungsenergie verbrauchen: Führungsenergie, die uns damit nicht länger zur Lösung unserer existentiellen Probleme zur Verfügung steht.

Aus einem System, in dem die Frage nach der Kontrolle der Kontrolleure zu immer neuen institutionellen Anworten und damit zu einer ständigen Vermehrung der Komplexität führt, wird schließlich ein unfruchtbarer Kontrollkreislauf, der nichts mehr bewegt, Neuerungen und Veränderungen erstickt und damit die Fähigkeit der Gesellschaft untergräbt, elastisch auf äußeren Wandel zu reagieren. Nur durch Vereinfachung gesellschaftlicher Strukturen können die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, daß der einzelne Mensch wieder mehr Kontrollaufgaben übernehmen kann; Aufgaben, die er gegenwärtig wegen der Größe und Komplexität gesellschaftlicher Strukturen an Bürokratien delegieren muß, in denen Kontrollierte und Kontrolleure letztlich zu einer Interessengemeinschaft zusammenwachsen, die gegen den Bürger gerichtet ist. Nur die Vereinfachung gesellschaftlicher Strukturen gibt uns die Chance, das Gleichgewicht zwischen direkter Kontrolle und institutioneller Kontrolle zugunsten der direkten Kontrolle zu verschieben, damit zugleich die Institutionen zu entlasten und die Chance des Bürgers zu erneuern, als Person an der Gestaltung und Kontrolle gesellschaftlicher Prozesse teilzunehmen. Ein praktischer Anwendungsfall für den Zusammenhang zwischen Komplexität der Strukturen und Anonymität der Kontrolle ist das Verhältnis von institutioneller Mitbestimmung und Mitbestimmung am Arbeitsplatz. Aus der Notwendigkeit der Vereinfachung und Dezentralisation gesellschaftlicher Strukturen folgt, daß die Mitbestimmung am Arbeitsplatz gegenüber der institutionellen Mitbestimmung nicht nur unter dem Gesichtspunkt unmittelbarer statt vermittelter Mitwirkung, sondern auch unter dem Gesichtspunkt gesellschaftlicher Strukturerfordernisse den Vorzug verdient. Mit der Vereinfachung gesellschaftlicher Strukturen ist die Verschiebung der Gewichte zugunsten der direkten Mitbestimmung am Arbeitsplatz verbunden.

Praktisch bedeutet dies, daß der jetzt in Angriff genommene Ausbau der institutionellen Mitbestimmung im Hinblick auf das Gesamtinteresse nicht dazu führen darf, bestehende Besitzsstände an starren Großstrukturen festzuschreiben und so die Vereinfachung gesellschaftlicher Strukturen zu erschweren oder zu verhindern. Genau diese Gefahr droht jedoch sowohl von den gewerkschaftlichen, wie von den Bürokratien der Großunternehmen.

Ähnliches gilt für den Bereich des Unternehmensrechts. Wenn Elastizität und Flexibilität gesellschaftlicher Strukturen eine Voraussetzung für die Aufrechterhaltung der Fähigkeit des Ganzen ist, tiefgreifenden Wandel in Freiheit zu bestehen, so müssen auch die Strukturen der Großunternehmen entsprechend diesem Erfordernis fortentwickelt werden. Für die Konzentrationsprozesse in der Wirtschaft bedeutet dies, daß ihre Notwendigkeit und damit Berechtigung nicht nur an der Rationalität der Unternehmen selbst, sondern ebenso an der Rationalität des Gesamtinteresses gemessen werden muß. Widerspricht die Konzentration in Teilbereichen dem nationalen Interesse an der Aufrechterhaltung einer optimalen Flexibilität, Durchlässigkeit und Anpassungsfähigkeit des Ganzen, so müssen neue Strukturen gefunden und entwickelt werden, die es erlauben, die anerkannten Ziele der Konzentrationsprozesse auf andere Weise zu erreichen. In keinem Fall läßt sich die Vernünftigkeit von Konzentrationsprozessen nur an der Nützlichkeit messen, die sie für gesellschaftliche Teilbereiche haben.

Der gleiche Grundsatz trifft auch auf die Großorganisationen der Gewerkschaften zu. Ausgehend von ihren gebiets- oder bundesweiten Tarifverträgen versuchen sie, Einheitsstrukturen auch dort zu verwirklichen, wo pluralistische Lösungen möglich und erstrebenswert sind. Das sind namentlich solche Bereiche, in denen die Gewerkschaften nicht als Tarifpartei, sondern in anderer Funktion, wie bei der Auswahl von Arbeitnehmervertretern für Unternehmensorgane, tätig sind. Die einheitliche Struktur der Tarifpolitik bietet jedoch keine Legitimation dafür, unterschiedliche Auffassungen über die Eignung von Kadidaten auszuschließen, die die Arbeitnehmer eines Unternehmens im Aufsichtsrat vertreten sollen.

Was für Großunternehmen gilt, gilt in gleicher Weise auch für die öffentliche Verwaltung. Das Verhältnis der Zentralbehörden zu den mittleren und unteren Instanzen muß im Zuge einer stärkeren Dezentralisation neu geordnet werden, um die Anpassungsfähigkeit an veränderte Aufgaben zu steigern. Für die Verwaltung müssen Strukturen entwickelt werden, die es den Oberinstanzen mehr als bisher ermöglichen, sich auf die Zielvorgabe zu konzentrieren und es den Mittel und Unterinstanzen weitgehend überlassen, die vorgegebenen Ziele im Rahmen eigenen, wenn auch erfolgskontrollierten Ermessens zu verwirklichen. Die Verwendung jahrhundertealter Organisationsstrukturen für die Bewältigung moderner Verwaltungsaufgaben führt unvermeidlich zu einer Vergeudung wertvoller Führungsenergie.

In diesen Zusammenhang gehört schließlich auch die unerläßliche Reform und Fortentwicklung des Verhältnisses von Regierung und Parlament. Die Stellung des Parlaments als dem eigentlichen Ort der Darstellung existentieller Ziele der organisierten Gesellschaft muß gestärkt und damit von der Exekutive unabhängiger gestaltet werden. Das allgemeine Wohl, dessen Definition, Beschreibung und Fortentwicklung letztlich im Parlament stattzufinden hat, kann nicht zum Gegenstand eines sogenannten „freien Spiels der Kräfte“ zwischen der Regierung und organisierten Gruppen werden. Das Volk, von dem nach unserer Verfassung alle Staatsgewalt auszugehen hat, kann sich in der Meinungsbildung eines Parlaments nur dann wiedererkennen, wenn dieses frei ist, den Inhalt der Solidarität des Ganzen verbindlich zu formulieren. Parlamente, die sich der Eigengesetzlichkeit funktionsunfähig gewordener Koalitionen unterwerfen, berauben das Volk der Möglichkeit, im Parlament den Treuhänder seiner staatlichen Gewalt zu erkennen.

[….]