Volksvertreter unter Druck

Volksvertreter unter Druck

 

Aus dem Text:

„…. Verfassungstheorie und politische Praxis klaffen schon seit Gründung der Bundesrepublik auseinander. Die Diagnose ist keine neue. Doch die Politiker machen sich um diesen Zustand keine Sorgen: Wer ein Regierungsamt als Krönung seiner Karriere anstrebt, wird sich nicht für eine Politik stark machen, die Parlament und Demokratie stärkt und die Regierung schwächt. Von Regierungsmitgliedern kann man eine solche Entmachtung nicht freiwillig erwarten ….“

 

Aus: FINANCIAL TIMES DEUTSCHLAND 30.11.01 (http://www.ftd.de)

 

Volksvertreter unter Druck

Der Bundestag soll der Regierung
Vorgaben machen und sie
kontrollieren. Wie die
Haushaltsplanung aber beispielhaft
zeigt, ist die Mehrheit der
Abgeordneten längst der Exekutive
hörig.“

Von Gerrit Wiesmann

Keine Steuern ohne Stimmen“ – nach diesem Motto verfuhren die Gründer der Vereinigten Staaten von Amerika vor zweihundert Jahren. Die Briten hatten sich sogar noch früher – bereits im 17. Jahrhundert- das Recht erkämpft, als erste selbst darüber zu entscheiden, wofür der König ihre Steuergelder verwendet. Und während der vergangenen drei Jahrzehnte haben die Bürger einer ganzen Reihe von Ländern ihren Regierenden das Recht abgetrotzt, über ihre Finanzgaben selbst zu entscheiden. „Das Budgetrecht ist immer noch das vornehmste Recht des Parlaments,“ sagte der Grünen-Haushaltsexperte Oswald Metzger.

Die deutschen Volksvertreter entscheiden heute also selbstbewusst über die Verwendung der Staatsmittel. Eine Mehrheit der Abgeordneten wird nach dreimonatiger Planung die Regierungsausgaben von knapp 250 Mrd. € absegnen. Doch basiert dieser Stolz auf dem Wunschdenken, dass die parlamentarische Praxis auch der demokratischen Verfassung entspricht. In der Praxis entscheidet das Parlament aber weitgehend nur noch über Vorgaben einer Handvoll Regierungsvertreter und Verwaltungsbeamter. „Und wenn eine Regierung stark und das Haus schwach ist, dann setzt die Regierung immer ihre Pläne durch“, gibt auch Metzger zu.

Diese fragwürdige Praxis wird von Regierung und Verwaltung der Effizienz wegen verteidigt. Der langjährige Haushaltsstaatssekretär im Bundesfinanzministerium, Peter Klemm, bedauerte noch während seiner Amtszeit Ende der 80er Jahre, dass „bei aller Offenheit der Diskussion“, die eine Demokratie erlaubt, „schließlich der Entscheidungsprozess beginnen“ müsse. Leider könne dieser Teil „nur von einem kleinen Kreis“ vorbereitet werden.

„Nur noch eine haushälterische Duftnote“

Aus dieser Sicht funktioniert die Haushaltsplanung bei einer Umkehr der Prozesse der demokratischen Entscheidungsfindung am besten. Nicht das Parlament soll Vorgaben an die Regierung machen. Allein die Exekutive und Verwaltung sollen vorschlagen, was Exekutive und Verwaltung auch ausgeben wollen.

Die Einschränkung dieses Parlamentsprivilegs prägt sogar das Selbstverständnis der Abgeordneten. „Es ist das natürliche Recht des Parlaments, im Haushalt dort Duftnoten zu setzen, wo es sie für richtig hält“, sagt der SPD-Haushaltsexperte Hans Georg Wagner. Die haushälterische Duftnote hat das Budgetrecht ersetzt.

Ausnahmen bestätigen die Regel. Für 2002 haben die Abgeordneten von Rot-Grün gegen den Willen der Regierung 80 Mio. € an Zusatzmitteln für die Aufbauhilfe in Afghanistan bereit gestellt. „Es gibt also noch Dinge, bei denen wir entscheiden, wie wir wollen“, sagt Metzger. „Aber wir könnten es noch besser machen.“ Er untertreibt geradezu: Die Afghanistan-Hilfe beträgt 0,03 Prozent der Ausgaben im nächsten Jahr. Wer hat die restlichen 99,97 Prozent verantwortet?

Vor wenigen Wochen gab es über die vermeintliche Entmachtung des Parlaments viel Aufsehen. Durch die Koppelung der Vertrauensfrage an die Abstimmung über den Bundeswehreinsatz gegen den Terrorismus soll der Kanzler auf noch nie dagewesene Weise die rot-grünen Abgeordneten gezwungen haben, für eine Regierungsentscheidung zu votieren.

„Wer ein Regierungsamt
anstrebt, wird sich nicht
für eine Politik stark
machen, die Parlament
und Demokratie stärkt und
die Regierung schwächt“

Viele Abgeordnete wiesen empört auf Artikel 38 des Grundgesetzes hin, in dem steht: Die Abgeordneten „sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen“. Erstaunlich war, dass sie diesen Zwang für außerordentlich erachteten: Die Mitglieder der Regierungsfraktionen fügen sich doch jährlich bei der Budgetplanung den Wünschen des Kanzlers.

Egal ob SPD und Grüne oder Union und FDP: Trotz Artikel 38 sind unsere Volksvertreter nicht in der Lage, sich den Weisungen ihrer Regierung zu widersetzen. Egal welche Parteien an der Macht sind, müssen sie sich in ihren Fraktionen unsichtbaren Zwängen beugen.

Das geht über das in der Verfassung erlaubte Mitwirken der Parteien an der Meinungsbildung hinaus. Denn die allermeisten sind Karrierepolitiker, die auf der von ihnen gewählten Laufbahn auch vorankommen möchten. Das endgültige Ziel ist ein Regierungsposten, den nur der Kanzler zu verteilen hat. Dieser muss deshalb meistens keine offenen Drohungen aussprechen, um die Abgeordneten gehorsam zu machen. Der Fraktionszwang ist geräuschlos.

Der CDU-Bundestagsabgeordnete Friedbert Pflüger beschreibt in einem Buch über die Regierungszeit Helmut Kohls den Macht bewussten Umgang des Kanzlers mit der Unions-Fraktion: Der begehrte Regierungsposten des Staatssekretärs „war sozusagen die Wurst, die er uns ständig vor die Nase hielt. “ Jeder wusste, dass „unabhängige und eigenständige Abgeordnete, die ab und zu eine kantige Position zum Ausdruck gebracht hatten, kaum eine Chance hatten, einen Staatssekretärsposten zu ergattern.“

„Karriereleiter Fraktion“

In den anderen Fraktionen funktioniert das System ähnlich. Der SPD-Abgeordnete Hermann Scheer sieht sogar in der Aufteilung einer Fraktion in „formale Aufstiegschancen“ ein Spiegelbild der Verwaltung – und ihres Gehorsam gegenüber der Regierung.

Treffend bemerkt der Berliner Staatsrechtslehrer Hans Meyer, dass es das gibt, was es nicht geben sollte: die Abgeordnetenlaufbahn. „Man beginnt als einfacher Abgeordneter, wird als Ausschussobmann Parlamentsfeldwebel, dient sich über den Parlamentsleutnant, sprich Ausschussvorsitzenden, den Parlamentsobersten, sprich Fraktionsgeschäftsführer zum Parlamentsgeneral, sprich Fraktionsvorsitzender.“ Der Rechtswissenschaftler Hans Herbert von Arnim spricht von den „Soldaten und Söldnern, die unter fremder Führung tätig werden im Interesse eines Konzepts, an dessen Erstellung sie selbst nicht mitgewirkt haben“.

Verfassungstheorie und politische Praxis klaffen schon seit Gründung der Bundesrepublik auseinander. Die Diagnose ist keine neue. Doch die Politiker machen sich um diesen Zustand keine Sorgen: Wer ein Regierungsamt als Krönung seiner Karriere anstrebt, wird sich nicht für eine Politik stark machen, die Parlament und Demokratie stärkt und die Regierung schwächt. Von Regierungsmitgliedern kann man eine solche Entmachtung nicht freiwillig erwarten.

Doch sollten die Politiker nicht der Ehrlichkeit halber entweder die Theorie an die Praxis oder die Praxis an die Theorie angleichen? Die erste Variante würde eine Neufassung des Artikels 38 bedeuten: Die Abgeordneten müssen sich den Zwängen der Parteikarriere unterwerfen. Stattdessen könnten die Abgeordneten die Initiative ergreifen, und ihre Verfassungsrechte mehr nutzen. Das käme aber einer Revolution gleich, die Kopf, Kragen und Karriere kosten könnte.

E-MAlL: wiesmann.gerrit@ftd.de