Über die Demokratie in Amerika

Aus dem Text:

„…. Die Macht der Gerichte ist zu allen Zeiten der sicherste Schutz gewesen, der sich der individuellen Unabhängigkeit bieten konnte; für die demokratischen Zeiten gilt das aber ganz besonders; die persönlichen Rechte sind da immer in Gefahr, wenn nicht die richterliche Gewalt in dem Maße wächst und sich erweitert, in dem die gesellschaftlichen Bedingungen sich einander angleichen ….“

 

Auszug (Kurzzitat) aus

Charles Alexis Henri Clérel, Graf von Tocqueville

Über die Demokratie in Amerika Teil II

Ausgewählt und herausgegeben von J. P. Mayer

Philipp Reclam jun. GmbH & Co. 1985

 

Seiten 348 ff.

[….]

Ich bin überzeugt, daß es leichter ist, eine absolute und despotische Regierung in einem Volk zu errichten, in dem die gesellschaftlichen Bedingungen gleich sind, als in einem anderen, und ich glaube, eine derartige Regierung würde – einmal in einem solchen Volk errichtet – die Menschen nicht nur unterdrücken, sondern auf die Dauer jedem einige der wesentlichen Attribute der Menschheit entreißen.

Der Despotismus erscheint mir daher in den demokratischen Zeiten als eine besondere Gefahr.

Ich glaube, ich würde die Freiheit in allen Zeiten geliebt haben; in der Zeit aber, in der wir leben, fühle ich mich geneigt, sie anzubeten.

Auf der anderen Seite bin ich überzeugt, daß alle, die in den kommenden Jahrhunderten werden versuchen wollen, die Herrschaft auf das Privileg und die Aristokratie zu stützen, damit scheitern werden. Alle werden scheitern, die die Herrschaft an eine einzige Klasse ziehen und sie ihr erhalten wollen. Es gibt heute keinen Herrscher, der geschickt und stark genug wäre, den Despotismus durch die Wiederherstellung der dauernden Unterschiede zwischen seinen Untertanen zu begründen; es gibt auch keinen so weisen und so mächtigen Gesetzgeber, der imstande wäre, freiheitliche Institutionen aufrechtzuerhalten, ohne die Gleichheit als oberstes Prinzip und Symbol zu nehmen. Daher müssen sich alle diejenigen unserer Zeitgenossen, die die Unabhängigkeit und Würde ihrer Mitmenschen begründen oder sichern wollen, als Freunde der Gleichheit ausweisen; und das einzig taugliche Mittel, sich als solche auszuweisen, ist, es zu sein: der Erfolg ihres heiligen Unternehmens hängt davon ab.

So geht es nicht darum, eine aristokratische Gesellschaft wiederherzustellen, sondern die Freiheit aus dem Schoße der demokratischen Gesellschaft, in der Gott uns leben läßt, hervorgehen zu lassen.

Diese beiden obersten Wahrheiten scheinen mir einfach, klar und fruchtbar, und sie führen mich zwanglos zu der Überlegung, welche Art einer freien Regierung in einem Volke, in dem die gesellschaftlichen Bedingungen gleich sind, begründet werden kann.

Schon aus der Verfassung der demokratischen Nationen und aus ihren Bedürfnissen ergibt sich, daß die Gewalt des Souveräns bei ihnen einheitlicher, zentralisierter, ausgedehnter, durchgreifender und mächtiger sein muß als anderswo. Der Staat ist hier von Natur tätiger und mächtiger, der Einzelne untergeordneter und schwächer: jener tut mehr, dieser weniger; das ist notwendig so.

Man darf daher nicht erwarten, der Bereich der individuellen Unabhängigkeit werde in den demokratischen Ländern jemals so weit sein wie in den aristokratischen. Das ist aber auch gar nicht zu wünschen; denn bei den aristokratischen Nationen wird oft die Gesellschaft dem Einzelnen, das Glück der größten Zahl dem Glanz weniger aufgeopfert.

Es ist zugleich notwendig und wünschenswert, daß die Zentralgewalt, die ein demokratisches Volk regiert, tätig und mächtig ist. Es handelt sich also nicht darum, sie schwach oder träge zu machen, sondern nur darum, sie daran zu hindern, ihre Rührigkeit und ihre Macht zu mißbrauchen.

Am meisten trug in den aristokratischen Jahrhunderten dazu bei, die Unabhängigkeit der Einzelnen zu gewährleisten, daß sich dort nicht nur der Souverän damit befaßte, die Bürger zu regieren und zu verwalten; er war verpflichtet, diese Sorge zu einem Teil den Mitgliedern der Aristokratie zu überlassen; auf diese Weise lastete die immer aufgeteilte staatliche Gewalt niemals insgesamt und gleichartig auf jedem Menschen.

Der Souverän tat aber nicht nur nicht alles selbst, die meisten Beamten, die an seiner Stelle handelten, waren auch gar nicht ständig in seiner Hand, da sie ihre Amtsgewalt nicht von ihm, sondern von ihrer Geburt ableiteten. Er konnte sie nicht jeden Augenblick je nach Laune ein oder absetzen, konnte sie nicht alle unterschiedslos seinen geringsten Wünschen gefügig machen. Das bot eine weitere Gewähr für die Unabhängigkeit der Einzelnen.

Ich sehe sehr wohl ein, daß man heutzutage nicht auf das gleiche Mittel zurückgreifen kann, aber ich kenne demokratische Verfahren, die an seine Stelle treten können.

Statt alle Verwaltungsbefugnisse, die man Körperschaften oder Adligen entreißt, allein auf den Souverän zu häufen, kann man einen Teil davon Körperschaften zweiter Ordnung anvertrauen, die vorübergehend aus einfachen Bürgern gebildet werden; auf diese Weise wird die Freiheit der Einzelnen sicherer sein, ohne daß ihre Gleichheit vermindert wäre.

Die Amerikaner, denen es nicht so sehr auf die Worte ankommt wie uns, haben die Bezeichnung Grafschaft für den größten ihrer Verwaltungsbezirke beibehalten; aber sie habendie Grafschaft teilweise durch eine Provinzialversammlung ersetzt.

Ich gebe ohne weiteres zu, daß es in einer Epoche der Gleichheit, wie der unsrigen, ungerecht und unvernünftig wäre, ein erbliches Beamtentum einzurichten; nichts hindert mich aber daran, es in gewissem Umfang durch gewählte Beamte zu ersetzen. Die Wahl ist ein demokratisches Mittel, das die Unabhängigkeit des Beamten gegenüber der Zentralgewalt ebenso, ja noch besser sichert, als die Erblichkeit das bei den aristokratischen Völkern vermochte.

Die aristokratischen Länder sind voll von wohlhabenden und einflußreichen Einzelnen, die auf niemand angewiesen sind und die man weder leicht, noch insgeheim unterdrücken kann; diese gewährleisten die allgemeine Mäßigung und Zurückhaltung der staatlichen Gewalt.

Ich weiß wohl, daß die demokratischen Staaten von Natur derartige Individuen nicht aufweisen; man kann hier aber künstlich etwas Entsprechendes schaffen.

Ich bin der festen Überzeugung, daß man in der Welt nicht erneut eine Aristokratie würde begründen können; aber ich glaube, die einfachen Bürger können, wenn sie sich zusammenschließen, sehr machtvolle, einflußreiche und starke Wesen, mit einem Wort: aristokratische Personen bilden.

Man würde auf diese Weise einige der größten politischen Vorteile der Aristokratie ohne ihre Ungerechtigkeiten und Gefahren erhalten. Eine politische, industrielle, kaufmännische oder sogar wissenschaftliche und literarische Vereinigung ist ein gebildeter und mächtiger Bürger, den man sich nicht gefügig machen, den man nicht im verborgenen unterdrücken kann und der in der Verteidigung seiner individuellen Rechte gegen den Zugriff des Staates die allgemeinen Freiheiten sichert.

In Zeiten der Aristokratie ist jeder immer mit einigen seiner Mitbürger sehr eng verbunden, so daß man ihn nicht angreifen kann, ohne daß diese ihm zu Hilfe kommen. In Zeiten der Gleichheit ist jeder Einzelne von Natur isoliert; er hat keine angeborenen Freunde, deren Hilfe er fordern könnte, keine Klasse, deren Zuneigung ihm sicher wäre; man übergeht ihn leicht und tritt ihn ungestraft mit Füßen. Heutzutage hat ein Bürger, den man unterdrückt, daher nur ein Verteidigungsmittel; er muß an die gesamte Nation appellieren, und, wenn die ihn nicht hört, an die Menschheit; dazu gibt es nur ein Mittel, die Presse. Daher ist die Pressefreiheit bei den demokratischen Nationen ungleich kostbarer als bei allen anderen; sie allein heut die Mehrzahl der Übel, die die Gleichheit hervorbringen kann. Die Gleichheit isoliert und schwächt die Menschen; die Presse aber stellt jedem von ihnen eine sehr wirksame Waffe zur Seite, deren sich auch der Schwächste und Isolierteste bedienen kann. Die Gleichheit nimmt jedem Einzelnen die Unterstützung seiner Nächsten; die Presse aber gestattet es ihm, alle seine Mitbürger und Mitmenschen zu Hilfe zu rufen. Die Buchdruckerkunst hat die Fortschritte der Gleichheit beschleunigt und ist zugleich eines ihrer besten Gegenmittel.

Ich glaube, die Menschen, die in der Aristokratie leben, können die Pressefreiheit allenfalls entbehren; die aber in demokratischen Ländern leben, auf keinen Fall. Um die persönliche Unabhängigkeit dieser Menschen zu gewährleisten, verlasse ich mich weder auf die großen politischen Versammlungen, noch auf die parlamentarischen Vorrechte, noch auf die Verkündigung der Volkssouveränität.

All das verträgt sich bis zu einem gewissen Punkt mit der individuellen Knechtschaft; diese Knechtschaft kann aber nicht vollständig sein, wenn die Presse frei ist. Die Presse ist recht eigentlich das demokratische Werkzeug der Freiheit.

Entsprechendes gilt von der richterlichen Gewalt.

Es liegt im Wesen der richterlichen Gewalt, daß sie sich mit Einzelinteressen beschäftigt und ihre Aufmerksamkeit bereitwillig auf kleine Gegenstände richtet, die man ihr unterbreitet; es liegt ferner im Wesen der richterlichen Gewalt, daß sie den Unterdrückten nicht von sich aus zu Hilfe kommt, daß sie aber ständig auch dem Niedrigsten von ihnen zur Verfügung steht. Dieser kann, wie schwach auch immer, den Richter allezeit zwingen, seine Klage anzuhören und ihr zu entsprechen: das gehört zum Wesen der richterlichen Gewalt.

Eine solche Gewalt dient den Bedürfnissen der Freiheit daher ganz besonders in einer Zeit, da Auge und Hand des Souveräns sich unaufhörlich in die geringfügigsten Einzelheiten der menschlichen Handlungen einmischen und die Einzelnen – zu schwach, um sich selbst zu schützen – zu isoliert sind, als daß sie auf den Beistand ihrer Mitmenschen zählen könnten. Die Macht der Gerichte ist zu allen Zeiten der sicherste Schutz gewesen, der sich der individuellen Unabhängigkeit bieten konnte; für die demokratischen Zeiten gilt das aber ganz besonders; die persönlichen Rechte sind da immer in Gefahr, wenn nicht die richterliche Gewalt in dem Maße wächst und sich erweitert, in dem die gesellschaftlichen Bedingungen sich einander angleichen.

Die Gleichheit flößt den Menschen einige für die Freiheit höchst gefährliche Neigungen ein, auf die der Gesetzgeber immer ein wachsames Auge haben muß. Ich erinnere hier nur an die wesentlichsten.

Die Menschen, die in den demokratischen Zeiten leben, sehen den Nutzen der Formen nicht leicht ein; sie begegnen ihnen mit einer instinktiven Geringschätzung. Die Gründe dafür habe ich schon an anderer Stelle genannt. Die Formen erregen ihre Verachtung, oft sogar ihren Haß. Da sie in der Regel nur auf leichten und sofortigen Genuß aus sind, stürzen sie sich leidenschaftlich auf jeden Gegenstand ihrer Wünsche; die geringste Verzögerung bringt sie auf. Diese Haltung, die sie auch auf das politische Leben übertragen, nimmt sie gegen die Formen ein, die sie täglich in irgendeinem ihrer Pläne aufhalten oder hemmen.

Genau dies aber, was die Menschen der Demokratien für den Nachteil der Formen halten, macht sie so nützlich für die Freiheit, denn ihr Hauptverdienst ist, daß sie als Schranke zwischen den Starken und den Schwachen, zwischen die Regierenden und die Regierten treten, um die einen aufzuhalten und den anderen Zeit zur Selbstbesinnung zu geben. Die Formen sind um so notwendiger, je tätiger und mächtiger der Souverän ist und je gleichgültiger und schwächer die Einzelnen werden. So bedürfen die demokratischen Völker von Natur aus der Formen in stärkerem Maße als die anderen Völker und achten sie von Natur aus geringer. Das verdient, sehr ernst bedacht zu werden.

Es gibt nichts Beklagenswerteres als die anmaßende Geringschätzung der meisten unserer Zeitgenossen für die Fragen der Form; denn heutzutage haben die kleinsten Formfragen eine früher nicht gekannte Bedeutung erlangt. Eine ganze Reihe der wichtigsten Interessen der Menschheit hängt mit ihnen zusammen.

Ich bin der Meinung, daß – wenn die Staatsmänner der aristokratischen Jahrhunderte die Formen gelegentlich ungestraft mißachten und sich über sie hinwegsetzen konnten – diejenigen, die heute an der Spitze der Völker stehen, auch noch die geringste der Formen achten müssen und sie nur vernachlässigen dürfen, wenn eine gebieterische Notwendigkeit sie dazu zwingt. In den Aristokratien hegte man für die Formen eine übertriebene Verehrung; wir müssen zu ihrer aufgeklärten und besonnenen Pflege finden.

Eine andere, den demokratischen Völkern sehr natürliche, aber auch sehr gefährliche Neigung verführt sie dazu, die individuellen Rechte zu mißachten und auf sie wenig Wert zu legen.

Die Menschen halten an einem Recht fest und respektieren es im allgemeinen wegen seiner Bedeutung oder weil es bei ihnen lange in Übung steht. Die individuellen Rechte nun, die wir bei den demokratischen Völkern finden, sind in der Regel wenig bedeutend, sehr neuen Datums und äußerst unbeständig; daher kommt es, daß man sie oft ohne Not opfert und sie fast immer bedenkenlos verletzt.

Nun ist es aber so, daß in ebender Zeit und bei ebenden Völkern, in denen die Menschen für die Rechte des Individuums eine selbstverständliche Geringschätzung an den Tag legen, die Rechte des Staates sich ebenso selbstverständlich erweitern und festigen; das heißt, die Menschen legen in genau dem Zeitpunkt weniger Wert auf die individuellen Rechte, da es am nötigsten wäre, das wenige, was von ihnen noch übrig ist, zu bewahren und zu verteidigen.

Gerade in den demokratischen Zeiten, in denen wir leben, müssen sich die wahren Freunde der Freiheit und der menschlichen Größe immer standhaft und bereit zeigen, zu verhindern, daß die staatliche Gewalt der allgemeinen Durchführung ihrer Pläne die persönlichen Rechte einiger Individuen leichtfertig zum Opfer bringt. In diesen Zeiten ist kein Bürger so unbedeutend, daß man ihn gefahrlos unterdrücken, ist kein individuelles Recht so unwichtig, daß man es ungestraft der Willkür ausliefern dürfte. Die Erklärung ist einfach: Verletzt man das persönliche Recht eines Einzelnen in einer Zeit, da der menschliche Geist von der Bedeutung und Heiligkeit solcher Rechte durchdrungen ist, so fügt man nur dem ein Übel zu, den man des Rechtes beraubt; ein solches Recht aber heutzutage verletzen, das heißt die nationalen Sitten im tiefsten untergraben und die gesamte Gesellschaft gefährden; denn bei uns neigt sogar die Vorstellung von solchen Rechten ständig dazu, sich zu wandeln und sich zu verlieren.

Es gibt gewisse Gewohnheiten, Vorstellungen und Gebrechen, die zum Zustand der Revolution gehören und die hervorzubringen und auszubreiten eine langandauernde Revolution nicht verfehlen kann – unabhängig von ihrem Wesen, Ziel und Schauplatz.

Hat eine Nation in einem kurzen Zeitraum mehrere Male ihre Staatsoberhäupter, Anschauungen und Gesetze gewechselt, so finden die Menschen, aus denen sie sich zusammensetzt, schließlich Gefallen an der ständigen Veränderung und gewöhnen sich daran, daß alle diese Veränderungen sich mit Hilfe der Gewalt rasch vollziehen. Sie beginnen dann ganz natürlich, die Formen, deren Ohnmacht sie täglich erleben, zu mißachten, und ertragen nur widerwillig die Herrschaft einer Norm, der man sich vor ihren Augen so oft entzogen hat.

Da die gewöhnlichen Begriffe der Billigkeit und der Moral nicht mehr ausreichen, all das Neue, das die Revolution täglich hervorbringt, zu erklären und zu rechtfertigen, tritt man dem Prinzip der sozialen Nützlichkeit bei, erfindet das Dogma von der politischen Notwendigkeit und gewöhnt sich bereitwillig daran, die Einzelinteressen bedenkenlos aufzuopfern und die individuellen Rechte mit Füßen zu treten, um das allgemeine Ziel, das man sich steckt, schneller zu erreichen.

Diese Gewohnheiten und Vorstellungen, die ich revolutionär nenne, weil alle Revolutionen sie hervorbringen, lassen sich in den Aristokratien ebenso wahrnehmen wie bei den demokratischen Völkern; sie sind aber bei ihnen häufig weniger wirksam und immer weniger dauerhaft, weil sie auf Gewohnheiten, Vorstellungen, auf Fehler und Besonderheiten stoßen, die ihnen entgegenwirken. Sie verschwinden daher, sobald die Revolution beendet ist, von selbst wieder, und die Nation kehrt zu ihrer alten politischen Haltung zurück. Das gilt nicht immer für die demokratischen Länder, in denen man stets befürchten muß, daß die revolutionären Neigungen, die sich besänftigen und sich einfügen, ohne doch ganz zu erlöschen, sich nach und nach in Gewohnheiten der Regierung und Gepflogenheiten der Verwaltung umsetzen.

Ich weiß daher kein Land, für das eine Revolution gefährlicher wäre als für eine Demokratie, weil sie hier – abgesehen von den zufälligen und vorübergehenden Übeln, die anzurichten sie nie verfehlt – immer droht, dauernde, ja sozusagen ewige Übel zu verursachen.

Ich glaube, es gibt ehrenhaften Widerstand und legitime Auflehnung. Ich sage also nicht ohne Einschränkung, die Menschen demokratischer Zeiten dürften niemals eine Revolution unternehmen; aber ich meine, sie haben alle Ursache,länger zu zögern als alle anderen, ehe sie sich dazu entschließen, und sie sollten lieber viele Mängel der bestehenden Ordnung hinnehmen, ehe sie auf eine so gefährliche Abhilfe zurückgreifen.

Ich will mit einem allgemeinen Gedanken schließen, der nicht nur alle die einzelnen im vorliegenden Kapitel behandelten Gedanken umfaßt, sondern auch die meisten der Gedanken, die herauszuarbeiten das Ziel dieses Buches ist.

In den Jahrhunderten der Aristokratie, die dem unseren voraufgegangen sind, gab es sehr mächtige Einzelne und eine sehr schwache staatliche Gewalt. Selbst die Vorstellung vom Staat war unklar und verlor sich ständig inmitten all der verschiedenen Gewalten, welche die Bürger regierten. Das Hauptbemühen der Menschen dieser Zeit mußte daher der Vergrößerung und Stärkung der staatlichen Gewalt gelten, der Sicherung ihrer Rechte und im Gegensatz dazu der Beschränkung der individuellen Unabhängigkeit und der Unterordnung des Einzelinteresses unter das allgemeine Interesse.

Andere Gefahren und andere Sorgen stehen den Menschen unserer Tage bevor.

Bei den meisten modernen Nationen ist der Souverän – gleichviel welches sein Ursprung ist, seine Verfassung und sein Name – nahezu allmächtig geworden, und die Einzelnen sinken immer mehr auf die unterste Stufe der Schwäche und Abhängigkeit.

In den früheren Gesellschaften war alles voneinander verschieden. Der Einheit und Einheitlichkeit begegnen wir dort nirgendwo. In unseren Gesellschaften droht alles einander so ähnlich zu werden, daß das individuelle Gesicht jedes Einzelnen sich bald vollständig in der allgemeinen Physiognomie verlieren wird. Unsere Vorfahren waren immer bereit, jene Idee, daß besondere Rechte zu achten seien, zu mißbrauchen, und wir neigen von Natur dazu, jene andere zu übertreiben, daß sich das Einzelinteresse dem Interesse der größeren Zahl stets zu beugen habe. Die politische Welt wandelt sich; von nun an müssen wir für neue Übel neue Abhilfe finden.

Der staatlichen Gewalt weitere, aber sichtbare und unverrückliche Grenzen zu stecken; den Einzelnen gewisse Rechte einzuräumen und ihnen den unangefochtenen Genuß dieser Rechte zu garantieren; dem Individuum das bißchen Unabhängigkeit, Kraft und Originalität, das ihm verbleibt, zu bewahren; ihm neben dem Staat seinen Platz anzuweisen und ihn gegenüber dem Staat zu stützen: das halte ich für die vornehmste Aufgabe des Gesetzgebers in der kommenden Zeit.

Man möchte fast sagen, die Herrscher unserer Zeit hätten nichts im Sinn, als mit den Menschen große Dinge zu schaffen. Ich wünschte, sie würden etwas mehr daran denken, große Menschen zu schaffen; weniger Wert auf die Arbeit und mehr auf den Arbeiter legen und ständig im Gedächtnis behalten, daß keine Nation auf die Dauer stark sein kann, wenn jeder Mensch in ihr, für sich genommen, schwach ist, und daß man noch keine sozialen Formen und keine politischen Kombinationen gefunden hat, die aus schwachen und kleinmütigen Bürgern ein kräftiges Volk zu schaffen vermögen.

Ich beobachte bei unseren Zeitgenossen zwei entgegengesetzte, aber in gleicher Weise gefährliche Vorstellungen.

Die einen sehen in der Gleichheit nur die anarchischen Neigungen, die sie auslöst. Sie fürchten ihren eigenen Willen; sie haben Angst vor sich selbst.

Die anderen, weniger zahlreich, aber gebildeter, haben eine andere Ansicht. Neben der Straße, die – ausgehend von der Gleichheit – zur Anarchie führt, haben sie schließlich den Weg entdeckt, der die Menschen unabweislich in die Knechtschaft zu führen scheint. Sie beugen ihre Seele dieser unumgänglichen Knechtschaft schon im voraus und beten, da sie die Hoffnung verloren haben, frei zu bleiben, im Grunde ihres Herzens bereits den Herrn an, der bald kommen muß. Die ersten geben die Freiheit auf, weil sie sie für gefährlich, die zweiten, weil sie sie für unmöglich halten.

Wäre ich dieser letzteren Überzeugung, so würde ich das vorliegende Buch nicht geschrieben haben; ich hätte mich darauf beschränkt, insgeheim über das Schicksal der Menschheit zu seufzen.

Ich wollte die Gefahren, mit denen die Gleichheit die menschliche Unabhängigkeit bedroht, deutlich herausstellen, weil ich der festen Überzeugung bin, daß diese Gefahren die schrecklichsten und zugleich unvorhergesehensten von allen sind, welche die Zukunft birgt: Aber ich halte sie nicht für unüberwindlich.

Die Menschen, die in den beginnenden Jahrhunderten der Gleichheit leben, haben von Natur den Drang zur Unabhängigkeit. Die Norm ertragen sie nur widerwillig: selbst die Dauer der bevorzugten Ordnung belästigt sie. Sie lieben die Gewalt: aber sie neigen dazu, den zu mißachten und zu hassen, der sie ausübt, und sie entschlüpfen seinem Zugriff gerade deswegen leicht, weil sie klein und beweglich sind.

Diese Tendenzen werden sich immer wieder finden, weil sie der Gesellschaftsordnung entspringen, die sich nicht ändern wird. Sie werden für lange verhindern, daß der Despotismus Fuß faßt, und werden jeder neuen Generation, die für die Freiheit der Menschen kämpfen will, neue Waffen liefern.

Hegen wir also vor der Zukunft jene heilsame Furcht, die uns wachen und kämpfen läßt, nicht jenen schwächlichen und müßigen Schrecken, der die Herzen niederdrückt und lähmt!

 

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